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Freitag, 24. Januar 2014

„Der Graben“ von Koji Suzuki

Wenn man die aktuellen Bewertungen auf Amazon ansieht, dann kommt Koji Suzuki derzeit bei fünf Bewertungen auf einen Stern von fünf möglichen. Die Überschriften der Kommentare lauten „Bis zur Hälfte ok und dann einfach nur schlecht“, „Meister der Langeweile“, „[Das] Langweiligste Buch der letzten Jahre“, „Wenn kein Stern ginge, dann gäbe es hier keinen“ und „Gähnende Langeweile“. Schlimmer geht’s eigentlich nimmer.

So entsetzlich empfand ich Koji Suzukis „Der Graben“ dann aber doch nicht. Fakt ist allerdings leider, dass der Verlag mit seiner Covergestaltung und -beschriftung völlig falsche Erwartungen schürt. Da wird die Times zitiert, die von eiskaltem Horror und dem Meister des Schreckens spricht oder der Las Vegas Mercury, der Koji Suzuki mit Stephen King vergleicht. Im Klappentext wird von einem unfassbaren Alptraum und einem Crescendo des Grauens gesprochen. Dann ist die Coverline „Der Graben“ auch noch blutbesudelt, um rohe Gewalt und schiere Blutgier zu illustrieren. Von all dem findet man leider kaum etwas bis gar nichts in Koji Suzukis „Der Graben“. Dem Heyne Verlag gelingt eine komplette Themaverfehlung in der bildlichen und textlichen Gestaltung des Covers. Kein Wunder also, wenn die Käufer enttäuscht sind. Wäre der Roman nicht so heischerisch angepriesen worden, sondern als Science Fiction mit viel mathematisch-naturwissenschaftlichem Hintergrund angekündigt worden, wäre „Der Graben“ die Häme auf Amazon vielleicht erspart worden. Ein Thriller ist „Der Graben“ definitiv nicht.

Um was geht es? Seltsame Dinge geschehen auf der Welt und im Weltraum. Sterne lösen sich auf, der Wert von Pi ändert sich und Menschen verschwinden plötzlich spurlos. Saeko, Mitte 30, übernimmt die Recherchen für ein Magazin, um Licht ins Dunkel eines Vermisstenfalls zu bringen. Saeko, die selbst noch immer unter dem Verschwinden ihres eigenen Vaters vor Jahren leidet, bürdet sich damit eine psychische Belastung auf, da alte Wunden aufgerissen werden. Doch sie ist nicht allein, sondern wird von einem Fernsehregisseur und einem Privatdetektiv unterstützt. Die mysteriöse Serie von Vermisstenfällen gipfelt darin, dass sich ganze Reisegruppen in Luft auflösen. Saeko und ihre Getreuen bemerken, dass die Menschen besonders an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten verschwinden und glauben, ein Muster zu erkennen. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit.

Wer keine Lust auf die vielen Hintergrundinformationen aus Mathematik, Physik und Evolutionsgeschichte hat, den wird „Der Graben“ sicherlich entsetzlich langweilen. Hinzu kommt, dass man mit der Figur der Saeko irgendwie nicht recht warm wird. Leider baut Koji Suzuki zum Ende hin noch eine solch unglaublich dämliche Wendung ein, wie Saeko das Verschwinden ihres Vaters aufklärt, dass man wirklich nur noch mit dem Kopf schütteln kann. Bis zu diesem Zeitpunkt kann man dem Roman ja wenigstens noch wissenschaftlichen Anspruch zu Gute halten, aber als dann plötzlich die Mystik ins Spiel kommt, wird das Ende des Romans vergeigt. Ich habe sicherlich schon schlechtere Bücher als Koji Suzukis „Der Graben“ gelesen (worunter unter anderem „The Ring II – Spiral“ desselben Autors fällt). Sicherlich werden Science Fiction-Fans, die großen Wert auf Science legen, dem Buch mehr Wertschätzung entgegen bringen als die Amazon-Rezensenten, die zu Recht ihrer Enttäuschung Luft machen, hält der Roman doch keines der Versprechen, die auf dem Cover und dem Klappentext kundgetan werden.

Bibliographische Angaben:
Suzuki, Koji: „Der Graben“ (Übersetzung aus dem Amerikanisch-Englischen: Marburger, Katrin), Heyne, München 2014, ISBN 978-3-453-43744-9

Donnerstag, 23. Januar 2014

„Blüten im Wind“ herausgegeben von Barbara Yoshida-Krafft

17 Essays von 16 Autoren versammelt Barbara Yoshida-Krafft in dem Band „Blüten im Wind“. In ihrem Vorwort beschreibt die Herausgeberin die Funktion des japanischen Essays:

„Wenn der Essay Erinnerung wachruft – und er tut es häufig – gerinnt die Erinnerung des einen Autors zur Erinnerung aller. Der Essay [ist] also auch das Gedächtnis der Nation.“ (S. 19)

Die Essays erinnern an tagebuchartige Einträge oder beschreiben längst vergangene Situationen. Die Texte wirken wie frei erzählt, sollen sie doch einem echten, spontanen Gefühl entsprechen und nicht streng durchkomponiert erscheinen. So sind die japanischen Essays ein Tor zum Leben der Autoren, da sie sehr viele autobiographische Informationen enthalten.

So erzählt der 94-jährige Maler Seifu Tsuda in der „Plauderei eines Langlebigen“ über seinen Alltag: Wie er frühstückt, wie er die Zeitung, zu allererst die Todesanzeigen, liest und dabei stolz auf sein hohes Alter ist. Dass er Ringkämpfe liebt, komplizierte Bücher dagegen gar nicht. Auch auf das Malen kommt er zu sprechen: Die Natur bildlich abzubilden ist seine Leidenschaft. Der Methusalem beendet seinen Essay mit:

„Im Fallen noch bleibt die weiße Päonie schön.“ (S. 31)

Im hohen Alter von 98 Jahren sollte Seifu Tsuda schließlich selbst sterben.

Ebenfalls auf Blumen bezieht sich der Universitätsprofessor und Essayist Takaki Okubo in „Kosmeen im Parc de Bagatelle“. Mitten in Europa, im Pariser Parc de Bagatelle, findet sich Takaki Okubo ganz überraschend im japanischen Herbst wieder. Nachdem er die verschwenderische Blumenanpflanzung bewundert, steht er plötzlich vor Kosmeen, die für ihn Wehmut und Stille repräsentieren. Von den Blumen kommt der Autor auf das ausgeprägte Jahreszeitverständnis der Japaner zu sprechen.

Der Literaturnobelpreisträger Yasunari Kawabata ist mit „Im Schein der Öllampe“ in „Blüten im Wind“ vertreten. Der Essay gewährt einen intimen Einblick in das Familienleben des Autors, als er zusammen mit seinem kranken Großvater lebte; dasselbe Thema, dem sich Yasunari Kawabata auch in der Erzählung „Tagebuch eines Sechzehnjährigen“ gewidmet hat.

Über die „Leiden der Literatur“ schreibt Kazumi Takahashi. Wie der Titel impliziert, ist der Essay von einer sehr negativen Stimmung geprägt. So schreibt der Autor:

„Die Luft der Realität ist zu befleckt, mit allzuviel Lärm erfüllt, mit zu vielen Bedingungen erschwert, als dass auch nur ein schwacher Ausdruck der dunklen Seite des Herzens zustandekommen könnte.“ (S. 48)

Hier bezieht sich Kazumi Takahashi auf die Vorwürfe, die sich Kan Kikuchi nach dem Selbstmord seines Freundes Ryunosuke Akutagawa machte. Doch auch Kazumi Takahashi liebäugelt des nächtens hin und wieder mit dem Gedanken an den Freitod, während er sich tagsüber seinen Studenten als würdevollen Dozenten präsentiert. Kazumi Takahashi offenbart in dem sehr persönlichen Essay seine dunkle Seite und spricht davon, dass er innerlich verdorrt ist und er sein bisheriges Leben so nicht weiterleben kann. Er hadert mit der Anständigkeit und Rechtschaffenheit, die seinen Geist verderben.

In  „Mit 18 und mit 34 Jahren – zwei Porträts“ schreibt Yukio Mishima über zwei seiner Lebensphasen. Mit 18 schwebt der Tod wie ein Schreckensgespenst über Yukio Mishima und seinen Mitschülern – der zweite Weltkrieg tobt und die jungen Männer rechnen fest damit, ihr leben lassen zu müssen. So fügt sich Yukio Mishima auch dem Wunsch seines Vaters, Jura zu studieren. Er glaubt ohnehin, dass sein Leben nicht von allzu langer Dauer sein wird. Mit Leib und Seele ist Yukio Mishima bereits Literat: Er gibt zusammen mit anderen eine Literaturzeitschrift heraus, verschlingt Romane anderer Autoren, an denen er vor allem die Metaphern bewundert und liebt es, am Schreibtisch zu sitzen, um zu schreiben. Mit 34 wirkt die Selbstbeschreibung weniger schmeichelhaft, wenn auch selbstironisch: Der Autor ist recht selbstverliebt und hat die intellektuellen Vorlieben gegen Unterhaltungsfilme und Beef Steaks eingetauscht. Auch das Thema des Todes behandelt er in seinem Essay: Bevor ihn eine Krankheit dahinrafft, möchte er lieber von einem Gewehrschuss getötet werden. Bereit ist er nicht für den Tod, er räumt jedoch ein:

„Und doch ist der Todesgedanke die süßeste Mutter meiner Arbeit.“ (S. 58)

Shohei Ooka illustriert in „Erinnerung an Schnee“ nicht irgendwelche Gedanken an die weiße Pracht. Er geht auf seine ganz persönlichen Erinnerungen an den Putschversuch vom 26. Februar 1936 ein, als Teile des Militärs die Macht an sich reißen wollten. Die Ruhe eines Schneetages wirkte an jenem verschneiten Februar doppelt dicht. Straßensperren legten den Verkehr still, die Menschen mussten teilweise ihre Wohnungen räumen. Kurz nach dem Coup d’Etat verließ Shohei Ooka Tokio Richtung Kamakura – die Hauptstadt war ihm verleidet…

Shohei Ooka begegnet dem Leser in Tsuneari Fukudas Essay „Teufel“ gleich nochmals. Dem schlafmittelabhängigen Fukuda entlockte Ooka so manches Geheimnis, nachdem Erster seine Medikamente eingenommen hatte. Ohne sich an die eigenen Enthüllungen erinnern zu können, harrt Fukuda den Veröffentlichungen von Ooka und hofft, nicht darin entblößt zu werden.

Über Musik handeln die Essays „Ein Ton“ von Toru Takemitsu und „Gesang der Rheintöchter – an einem Regentag“ von Hidekazu Yoshida. Der Komponist Toru Takemitsu philosophiert über den Ton und die Pause in der japanischen Musik und ihren Gegensatz zur westlichen. Auch der Musikkritiker Hidekazu Yoshida plaudert amüsant über westliche Musik. Da kommt insbesondere die deutsche Klassik nicht besonders gut weg: So beschwört Hidekazu Yoshida gern das Bild des Nebels in deutschen Wäldern und die Sehnsucht nach der Sonne des Südens, die er aus Brahms und Wagner heraushören will. Von Hidekazu Yoshida ist mit „Nakahara Chuya – ein Dichterporträt“ ein zweiter Essay in „Blüten im Wind“ enthalten. Als Student mietet sich Hidekazu Yoshida bei einem Professor ein, über den er den Dichter Chuya Nakahara kennenlernt. Er zieht zusammen mit dem Lyriker um die Häuser, übernachtet bei ihm und lässt sich von ihm Französisch beibringen. Anhand von eingeflochtenen Gedichten von Chuya Nakahara beschreibt er den Charakter des Dichters und weist insbesondere auch die Tragik um den Tod von Chuya Nakaharas Kind hin, der bereits seinen Schatten auf den baldigen Tod des Dichters selbst warf.

Chiyo Uno gesteht in „Der richtige Moment“, dass ihr im Alter von 40 Jahren die Erkenntnis kam, dass sie kein Talent hatte, bei den Lesern wahres Interesse für die Handlungen ihrer Werke zu wecken. Darüber hinaus gewährt die Autorin dem Leser einen Einblick in ihre ganz persönliche Schreibpraxis.

Minako Oba erzählt von ihren „Erinnerungen an die ‚Geschichte vom Prinzen Genji’“: So war nach dem Ende des zweiten Weltkriegs fast nur klassische Literatur zu bekommen und Minako Oba begann also als Teenager die „Geschichte vom Prinzen Genji“ zu lesen und zu lieben. Obwohl sich die Autorin mehr und mehr der europäischen Literatur zuwandte, blieb der höfische Roman doch stets ein Wegbegleiter, sogar bis in die USA.

Auch Takako Takahashi, die Ehefrau von Kazumi Takahashi, berichtet über den Schreibprozess, in dem sie besonderes Augenmerk auf  „Das Haus als Schauplatz der Erzählung“ legt. Bereits in der Entwurfphase stellt sich die Schriftstellerin genau vor, in welchen Räumlichkeiten die Handlung ablaufen wird. Ob dies wohl daran liegt, dass sie selbst in einem großen Haus aufgewachsen ist?

Der Druckgraphiker und Künstler Masuo Ikeda spricht in „Das Morgen gestalten“ von seinen anfänglichen Minderwertigkeitskomplexen, „nur“ ein Druckgraphiker zu sein, und präsentiert sein derzeitiges Selbstverständnis.

Mit Shuichi Katos „William Turner und England“ wird ein kunstgeschichtlicher Essay präsentiert. Der Autor hüpft von Constable zu Shakespeare, um dann bei Monet zu landen und mit Turner zu vergleichen.

Um Kunst und Antiquitäten geht es auch in Hideo Kobayashis „Echtes und Gefälschtes“. Mit amüsiertem und amüsierenden Blick werden die Sammelleidenschaft porträtiert und psychologische Effekte dargestellt, wenn sich eine Antiquität als Fälschung herausstellen sollte.

Ryoichi Ikushima schreibt in „Über No als empirisches Erlebnis“, dass sich für ihn im No der japanische Schönheitssinn am vollkommensten offenbart. Als Metapher für das Raffinement gelten ihm die weißen Tabi der No-Meister. Zudem geht Ryoichi Ikushima auf die Macht ein, die in den No-Masken inne zu wohnen scheint.

Ich gebe zu, dass Essays nicht gerade meine Lieblingslektüre sind. Jedoch gelingt es Barbara Yoshida-Krafft, den Leser für das Genre zu begeistern. Die Auswahl der Essays ist sehr gelungen, das Vorwort aufschlussreich und insbesondere die Anmerkungen zu den Autoren stellen die Werke nochmals in einen Sinnzusammenhang. Auf diesem Wege werden nicht nur einzelne Essays präsentiert, sondern die intimen Werke mit dem Werdegang der Autoren verknüpft. So kann sogar ich mich für Essays begeistern!

Bibliographische Angaben:
Yoshida-Krafft, Barbara (Hrsg.): „Blüten im Wind“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Yoshida-Krafft, Barbara), Edition Erdmann, Tübingen 1981, ISBN 3-88639-506-5

Samstag, 11. Januar 2014

„Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ von Haruki Murakami

Die „Années de Pèlerinage“ von Franz Liszt, die Pilgerjahre, und insbesondere das Stück „Le mal du pays“ begleiten den zwischenzeitlich 36-jährigen Tsukuru Tazaki seit seiner Schulzeit. Die engelsgleiche Shiro hatte damals das Klavierstück öfter gespielt. Doch zu Shiro hat Tsukuru seit 16 Jahren keinen Kontakt mehr. Denn irgendetwas ist vorgefallen, das Anlass war, Tsukuru für immer aus seiner Clique zu verstoßen. Diese Clique war gar mehr als ein Freundeskreis; sie war die perfekt austarierte Harmonie, fünf Teenager die einen optimalen Kreis bildeten. Mit einem kleinen Schönheitsfehler: Während vier davon in ihrem Nachnamen eine Farbe (Aka, Ao, Shiro und Kuro = Rot, Blau, Weiß und Schwarz) trugen, war das bei Tsukuru nicht der Fall. Er war in diesem Sinne farblos.

Als Tsukuru nach Tokio zum Studieren gegangen war, erhielt er einen überraschenden Anruf eines der Freunde – er solle sich gefälligst nie wieder bei ihnen melden, sie wollen nie wieder Kontakt mit ihm haben. Diese Nachricht stürzte ihn in eine tiefe Depression, die ihm den Tod immer näher brachte. Doch Tsukuru überwand diese schwierige Phase und lebte fort – wenn auch nicht in Saus und Braus, doch überlebte er den Verstoß durch die Freunde, die ihm die Welt bedeutetet hatten. Dennoch fühlte sich Tsukuru leer, farblos und langweilig. Zwischenzeitlich fand er nur einen Freund (mit einer Farbe im Namen), der ihn jedoch auch bald für immer verließ.

Als Tsukuru mit 36 die zwei Jahre ältere Sara kennenlernt, bemerkt diese, dass Tsukuru ein unverarbeiteter Schmerz inne wohnt. Bevor sie sich mit ihm einlassen will, stellt sie ihm die Bedingung, sich mit seinen vier Freunden auszusprechen. Sie steht im mit Rat und Tat bei Seite, um die jeweiligen Treffen zu arrangieren. Schritt für Schritt erfährt Tsukuru, warum seine Freunde ihn aus ihrer Mitte verstoßen haben.

Dem ersten Kapitel von Haruki Murakamis „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ gelingt es noch nicht, den Leser zu fesseln. Das mag an den Personenbeschreibungen liegen, die an faktische Aufzählungen erinnern und so ein recht nüchternes Bild der Charaktere zeichnen. Auch die tiefe Verzweiflung des Tsukuru war für mich nicht recht greifbar. Gott sei Dank rücken die Figuren in den folgenden Kapiteln etwas näher; man beginnt mit Tsukuru mitzuleiden.

Aus der Erzählstruktur wurde mir nicht hundertprozentig klar, ob es sich um einen auktorialen Erzähler handelt. Zu Beginn deutet nur ein Satz darauf hin, dass eine Reflektorfigur erzählen könnte:

„Ich weiß nicht, ob man es einen Zufall nennen kann…“ (S. 11)

Gegen den auktorialen Erzähler spricht, dass Tsukuru anfangs als eine Figur ohne wesentliche Eigenschaften geschildert wird, Tsukurus Freunde dem später aber vehement widersprechen. Die Widersprüchlichkeit von (scheinbarer) Faktizität und der Subjektivität der Charkatere muss der Leser mit sich aushandeln.

Viele typische Murakami-Elemente tauchen auch in „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ auf: Die wunderbare und geheimnisvolle Frau; Schwimmen; ungewöhnliche Namen; ein Musikstück, das den Protagonisten begleitet; plötzliches Verschwinden von Personen; das Verlorensein in der Großstadt; das Gefühl, ein Versager zu sein. Die Grenzgänge, die manche Murakami-Romane beherrschen, sind jedoch nicht ganz so ausgeprägt.

Eine Identifikation mit dem Protagonisten fällt in „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ etwas schwerer als mit den Charakteren anderer Murakami-Werke. Das mag daran liegen, dass die schicksalhafte Wendung 16 Jahre in der Vergangenheit angesiedelt ist und man Tsukuru als Menschen kennenlernt, in dem die Traurigkeit und die Einsamkeit bereits tief verwurzelt sind. Trotzdem geht einem der Schmerz freilich zu Herzen, doch betrachtet man Tsukuru stets aus einer beobachtenden Distanz und beginnt, ihn zu bemitleiden, statt sich mit ihm zu identifizieren. Sicherlich ist „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ gute Unterhaltung, die auch ernste Fragen (Kernfrage für mich: Wäre man heute der-/dieselbe, wenn damals dieses oder jenes nicht passiert wäre?) aufwirft, doch an ältere Murakami-Werke reicht der Roman für mich nicht heran.

Bibliographische Angaben:
Murakami, Haruki: „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Gräfe, Ursula), Dumont, Köln 2014, ISBN 978-3-8321-9748-3

Montag, 6. Januar 2014

Kazumi Takahashi

Kazumi Takahashi wurde 1931 in Osaka geboren. Während der Evakuierungszeit während des zweiten Weltkriegs begann er viel zu lesen und 1949 selbst zu schreiben. An der Universität von Kioto studierte er – inspiriert vom Autor Eiji Yoshikawa – Sinologie. 1954 schloss er sein Studium ab, heiratete die Autorin Takako Takahashi (geborene Okamoto) und promovierte 1959. Er unterrichtete im Anschluss unter anderem an der Ritsumeikan-Universität, der Meiji-Universität und der Universität von Kioto.

Während seiner Studienzeit begann er sich für die Kommunistische Partei zu interessieren, betätigte sich dann aber bei der Neuen Linken und wurde zu einem der führenden Köpfe der Partei. Kazumi Takahashi galt als Befürworter der Studentenunruhen in den 60er Jahren. Unter den Studenten fand sein Roman „Mein Herz ist nicht aus Stein“ großen Anklang.

Kazumi Takahashi lehnte den Ich-Roman ab; seine Präferenz lag auf gesellschaftlich-politischen Problemstellungen. Seine Werke sind geprägt von den Themen Einsamkeit, Verzweiflung und Traurigkeit.

1971 starb Kazumi Takahashi erst 39-jährig an Darmkrebs.

Ins Deutsche übersetzte Essays und hier rezensiert:

Sonntag, 5. Januar 2014

„Masako“ von Kikou Yamata

„Masako“, der Debütroman von Kikou Yamata, wurde 1925 in Frankreich veröffentlicht und 1942 auch auf Deutsch publiziert. Als „Marketing-Aktionen“ wurden Fotos von Kikou Yamata im Kimono in den französischen Buchhandlungen ausgelegt und die Autorin führte die Blumensteckkunst des Ikebana in einem Buchladen in Paris vor. Der Roman fand sehr lobenden Anklang und wurde zu einem Bestseller.

Doch heute liest sich die Liebesgeschichte allzu süßlich. Da haben wir Masako, die im besten Heiratsalter ist und deren Familie sehr wählerisch bezüglich des zukünftigen Gatten ist. Daher langweilt sich Masako gerade sehr in ihrem Leben, das von Müßiggang geprägt ist. Ihr Oheim organisiert schließlich ein Biwaspiel, um ein erstes Zusammentreffen mit einem Heiratskandidaten zu arrangieren. Naoyoshi entstammt einer reichen Familie und zeigt Interesse an Masako. Die beiden nähern sich langsam an, tauschen Geschenke und gehen züchtig spazieren. Als die beiden sich in einander verlieben, schreiten die traditionell eingestellten Tanten ein: An eine Liebesheirat ist sicherlich nicht zu denken! Die Verlobung soll gelöst werden, da Naoyoshi Masako bereits wie eine Geisha behandelt. Die Tanten möchten die Würde wiederherstellen, während Masakos Vater und ihr Oheim für das Liebespaar eintreten.

In die Handlung werden viele Naturbeobachtungen Masakos eingeflochten, die dem dünnen Roman in den 20er Jahren sicherlich viel Exotik eingeblasen haben. Hinzu kommt die Schilderung der japanischen Sitten, die die Leserschaft damals bestimmt ebenfalls sehr interessiert haben mag.

Mit Masako konnte ich leider nicht mitleiden und mitfühlen. Das Werk wirkt wie ein Teenagerroman, der ein romantisches Bedürfnis nach der ersten Liebe und einer fremden Exotik bedient.

Bibliographische Angaben:
Yamata, Kikou: „Masako“ (Übersetzung: Pauli, Else), Droste-Verlag, Düsseldorf 1942

Freitag, 3. Januar 2014

„Die elektrische Geisha“ herausgegeben von Atsushi Ueda

Der Titel „Die elektrische Geisha“ macht neugierig auf den Band, der 25 Aufsätze über die japanische Alltagskultur enthält, geschrieben größtenteils von japanischen Akademikern. So erfährt der Leser, dass die Badehauskultur im siebten Jahrhundert entstand, als aus China und Korea der Buddhismus nach Japan kam und in buddhistischen Klöstern Tempelbäder errichtet wurden, die als gesundheitsfördernd galten. Ebenfalls im siebten Jahrhundert wurde mit dem Buddhismus der grüne Tee nach Japan gebracht, der aber bis zum vierzehnten Jahrhundert nur einer wohlhabenden Schicht vorbehalten blieb. Mit dem Sinken des Teepreises wurde Tee der Allgemeinheit zugänglich – für einen Sen, der kleinsten Münzeinheit, wurde nun Tee zunächst am Straßenrand ausgeschenkt, bis schließlich die ersten Teehäuser entstanden.

Besonders interessant war für mich der Artikel „Wie Bürokraten die Gesellschaft verwalten“: Denn die Regularien lassen den Bürokraten große Bemessungsspielräume im Sinne des Leitsatzes „Sorge dich nicht um Armut, sondern um Ungleichheit.“ Während arme Menschen oder krankende Unternehmen mit Nachsicht rechnen können, werden die Regeln bei den Wohlhabenden und erfolgreichen Unternehmen strikt eingehalten.

Sicherlich haben die unterschiedlichen Artikel auch unterschiedliche Qualität. So enttäuscht der Aufsatz „Die elektrische Geisha“ ein bisschen – damit ist nichts weiter als die Unterhaltungsfunktion des Karaoke gemeint. Das Phänomen der Pauschalreisen ist in Deutschland ja ebenfalls bekannt und daher kann der Aufsatz hierzu auch nicht mitreißen. Und wenn Takahiro Hisa den „Reichtum der Jauchegruben“ anpreist und dazu aufruft, Menschenkot als Dünger einzusetzen, dann mag man ein bisschen mit dem Kopf schütteln.

Zudem hat das Buch nun auch schon rund 20 Jahre auf dem Buckel. Da kommen einem Sätze zum Karaoke wie „Die Anlagen, die heute auf dem neuesten Stand sind, benutzen Laser-Platten, von denen jede achtundzwanzig Lieder enthält.“ (S. 56)  ja doch glatt ein bisschen lachhaft vor.

Dennoch: Sicherlich bietet „Die elektrische Geisha“ allerhand Hintergrundinformationen zu Japan. Die in der Unterüberschrift angepriesenen „Entdeckungsreisen in Japans Alltagskultur“ sind jedoch von unterschiedlich ausgeprägter Kurzweil.

Bibliographische Angaben:
Ueda, Atsushi (Hrsg.): „Die elektrische Geisha“ (Übersetzung aus dem Englischen: Schomecker, Anke), Edition Peperkorn, Göttingen 1995, ISBN 3-929181-06-1