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Mittwoch, 29. August 2012

„Tagebuch eines alten Narren“ von Junichiro Tanizaki

„Was würde meine Mutter sagen, wenn sie wüsste, dass ich, ihr Sohn Tokusuke, der im 16. Jahr Meiji geboren wurde, noch immer am Leben bin und mich in die niedrigen Reize Satsukos, also der Ehefrau ihres Enkels, verliebt habe, dass ich darüber glücklich bin, von ihr gequält zu werden, und sogar Frau und Kind opfern würde, um ihre Liebe zu gewinnen!“ (S. 86)

Was würde wohl die Mutter des Tokusuke Utsugi sagen, der im „Tagebuch eines alten Narren“ einige seiner letzten Eskapaden auf Erden niederschreibt? Denn obwohl Tokusuke ein pflegebedürftiger Greis ist, hat er es faustdick hinter den Ohren. Schöne und insbesondere grausame Frauen haben es ihm angetan. Satusko, seine Schwiegertochter, ist eine solche Femme Fatale, die ihre Reize ausspielt, Tokusuke hinhält und sich kleine sexuelle Gefälligkeiten teuer bezahlen lässt. Nüchtern schildert Tokusuke in seinem Tagebuch, wie er Satsukos Treiben zwar durchschaut, sich aber umso mehr zu ihr hingezogen fühlt. Denn statt eines ersehnten Kusses lässt sie ihm nur Spucke in den Mund tropfen. Statt zu ihm zärtlich zu sein, verhätschelt sie demonstrativ lieber ein Haustier. Und den zahnlosen Alten, der sein Gebiss gerade nicht trägt, veräppelt sie als hässlich. Der Wunsch nach Dominierung soll sich auch in der Gestaltung seines Grabes widerspiegeln, hat Tokusuke beschlossen.

Die für Tokuske so körperlich anstrengenden Tagebuchaufzeichnungen umfassen neben den amourösen Anwandlungen auch den Alltag des Greises: Akupunktur, Arztbesuche, Schmerzmitteleinnahme und Diskussionen über Geld. In diesen Dingen erweist sich Tokusuke als relativ dickköpfig – nur Satsuko wickelt ihn um den kleinen Finger.

Junichiro Tanizakis Spätwerk aus dem Jahr 1962 zeichnet das Bild eines verschrobenen Freigeistes – weder Religion noch Familie sind ihm heilig. Dennoch hängt er auch an Vergangenem: Das moderne Tokio kommt ihm vor wie eine Müllhalde. Da ist ihm das ruhige, traditionellere Kioto schon sehr viel lieber. Den modernen Frauentyp à la Satsuko vergleicht er mit den völlig anderen Frauen der Generation seiner Mutter, die sich im Watschelgang fortbewegten. So nimmt Tanizaki auch in „Tagebuch eines alten Narren“ das Thema Modernisierung auf.

Bibliographische Angaben:
Tanizaki, Junichiro: „Tagebuch eines alten Narren“, Volk und Welt, Berlin 1991, ISBN 3-353-00813-6

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