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Sonntag, 10. Januar 2016

„Ein Kirschbaum im Winter“ von Yasunari Kawabata

Zentrum von Yasunari Kawabatas „Ein Kirschbaum im Winter“ ist das Familienoberhaupt Shingo Ogata. Shingo hat seinerzeit die jüngere Schwester seiner toten Angebeteten geheiratet. Allerdings reicht seine Ehefrau Yasuko bei Weitem nicht die Schönheit der Verstorbenen heran. Shingo und Yasuko haben zwei verheiratete Kinder: Der Sohn Shuichi hat die schöne Kikuko geehelicht, mit der er ganz traditionell bei seinen Eltern wohnt. Shuichi hat jedoch eine außereheliche Liebschaft, unter der Kikuko sehr leidet. Die Tochter Fusako ist ebenfalls nicht glücklich in ihrer Ehe: Ihr Mann Aihara ist drogensüchtig, es kommt oftmals zum Streit. Zusammen mit ihren Töchtern Satoko und Kuniko wird Fusako bald zurück zu den Eltern ziehen.

Shingo ist ganz bezaubert von der Schönheit seiner Schwiegertochter Kikuko – sucht er doch umsonst die Anmut der Jugendliebe in seinen weiblichen Blutsverwandten. Da sein Sohn Shuichi Kikuko kaum Aufmerksamkeit zukommen lässt, versucht Shingo dies mit besonders nettem Verhalten Kikuko gegenüber auszugleichen – sehr zum Ärgernis seiner Tochter Fusako. Shingo hofft darauf, dass Shuichi seine Affäre bald beendet, doch ist er recht phlegmatisch und drängt kaum seinerseits darauf, dass Shuichi seiner Ehefrau treu zu sein hat. Doch ohne die Trennung Shuichis von seiner Geliebten ist der Familienfrieden bedroht.

Yasunari Kawabatas „Ein Kirschbaum im Winter“ mag auf den ersten Blick etwas langatmig und dröge vorkommen; insbesondere wenn man sich noch nicht allzu sehr mit den Eigenheiten von japanischer Literatur befasst hat. Denn Shuichi zögert zu sehr, beobachtet sehr viel und erweist sich nicht als ein starker Protagonist.

Stattdessen erwartet den Leser ein großes Spektrum an verschiedenen Themen, die parallel in die Familiengeschichte von Shingo eingeflochten werden. Da geht es einerseits noch um klassisch-traditionelle Familienstrukturen und andererseits um moderne Frauen, die unabhängig von Männern ihr Leben führen können/müssen. Da geht es um den Wert der Schönheit und der Anmut in der japanischen Kultur. Metaphysische Erlebnisse, böse Omen und Traumdeutungen paaren sich mit dem für die japanische Literatur typischen Motiv der Jahreszeiten, die durch die Betrachtung von Pflanzen vermittelt werden. Reminiszenzen an verschiedene Kulturbereiche wie das No-Theater, Malerei (Stichwort: Kazan Watanabe) und Literatur (Stichwort: Ogai Mori) lassen en passant kurz in die japanische (Hoch-)Kultur eintauchen. Und dann gibt es auch noch die Eigenheiten des Doppelselbstmords, die Abfindungen für Geliebte und die Quasi-Selbstverständlichkeit von Abtreibungen. Aber auch ganz abseits von japanischen Themen geht es auch um das Altern, den Verfall und den Tod. All das und sicherlich noch einige mehr Aspekte machen den vielschichtigen Roman aus, auf den man sich als Leser auch einlassen muss.

Interessant ist es sicherlich, Junichiro Tanizakis „Tagebuch eines alten Narren“ im Vergleich zu lesen. Obwohl es im Junichiro Tanizaki-Werk ebenfalls um eine Schwiegervater-Schwiegertochter-Beziehung und das Altern geht, verorten sich „Tagebuch eines alten Narren“ und „Ein Kirschbaum im Winter“ äußerst verschieden.

Bibliographische Angaben:

Kawabata, Junichiro: „Ein Kirschbaum im Winter“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Schaarschmidt, Siegfried & Kure, Misako) DTV, München 1971, ISBN 3-423-00793-1

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