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Mittwoch, 19. März 2014

Kenji Miyazawa

Kenji Miyazawa
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Kenji Miyazawa erblickte im Jahr 1896 das Licht der Welt. Seine Heimat, die Region Iwate, war zwei Monate vor seiner Geburt von dem Meiji-Sanriku Erdbeben und dem damit einhergehenden Tsunami heimgesucht worden. Dank des Leihhauses des Vaters konnte Kenji Miyazawa in einem gut begüterten Elternhaus aufwachsen. Jedoch erlebte er im Leihhaus auch die Härte des Lebens: Insbesondere das Leid der Bauern weckte seinen Gerechtigkeitssinn und sein Mitgefühl für die Landbevölkerung.

Bereits mit 13 Jahren schrieb Kenji Miyazawa erste Tanka. Im Jahr 1915 trat er in die Hochschule für Land- und Forstwirtschaft von Morioka ein und studierte Geologie. Im Jahr 1918 beendete er sein Studium. Als erstgeborener Sohn litt Kenji Miyazawa unter der Erwartungshaltung des Vaters. So ging er 1921 nach Tokio und lebte unter recht armseligen Bedingungen. Erfüllung fand der gläubige Buddhist in der Lehre vom Lotus-Sutra.

Als nach einem guten halben Jahr Kenji Miyazawas Schwester erkrankte und später verstarb, kehrte er nach Hause zurück. Er fand eine Anstellung als Lehrer an der Landwirtschaftsschule von Hanamaki.

1924 ließ Kenji Miyazawa auf eigene Kosten einen Gedichtband drucken. Im selben Jahr erschien ein Band mit sechs seiner Märchen.

1926 kündigte Kenji Miyazawa an der Landwirtschaftsschule und wurde Landwirt. Die Zukunft der Landwirte lag ihm sehr am Herzen und daher bildete er sie weiter. Zudem richtete er Beratungsstellen ein. 1928 erkrankte er an einer schweren Lungenentzündung. Kurze Zeit nahm er sein Berufsleben wieder auf, erkrankte jedoch erneut. 1933 starb der Autor 37-jähriger an einer Lungenentzündung. Viele seiner Werke wurden erst posthum veröffentlicht.

Auf dem Krankenbett schrieb Kenji Miyazawa sein berühmtestes Gedicht „Unbeugsam im Regen“, das insbesondere nach 3/11 einen hohen Grad an Beliebtheit erlangte, wie überhaupt Kenji Miyazawa einen Boom erlebte. Denn der Autor stellte nicht nur die Grausamkeit der Natur in seinen Werken dar, sondern auch die Verbundenheit mit und die Inspiration durch die Natur.

Viele seiner Werke wurden in heutiger Zeit als Anime adaptiert.

Interessante Links:

Hier rezensiert:

Weitere ins Deutsche übersetzte Werke:
    • Goosch der Cellist und andere Geschichten aus Japan
    • Transgalaktischer Nachtzug

    Sonntag, 16. März 2014

    „Etüden im Schnee“ von Yoko Tawada

    Mit „Etüden im Schnee“ erzählt Yoko Tawada die sich an Fakten entlang hangelnde und doch stark imaginierte Geschichte des vielleicht berühmtesten Eisbären und dessen Mutter und Großmutter. Knut heißt der zunächst noch so süße, kleine Eisbär, der im Dezember 2006 im Berliner Zoo geboren und von seiner Mutter Tosca nicht angenommen wurde.

    Doch der Roman beginnt mit Knuts Großmutter, die im ersten Kapitel wie ein Mensch dargestellt wird. Als Ich-Erzählerin berichtet sie von ihren Bemühungen, ihre Biographie als ehemaliger Zirkusstar nieder zu schreiben – und gerät prompt zwischen die Fronten des kalten Kriegs. Um nicht zum sinnlosen Orangenbaumpflanzen nach Sibirien abgeschoben zu werden, wird sie nach Westdeutschland gelotst. In ihrer neuen Heimat soll sie ihre Biographie weiterschreiben, doch die Sprache steht ihr im Weg. Wegen ihrer Schreibblockade und ihres enormen Lachskonsums wird sie schnell nach Kanada weiter geschickt. Dort beginnt sie, nicht über Vergangenes, sondern über die Zukunft zu schreiben – und gibt so den Lebensweg vor, den ihre noch ungeborene Tochter Tosca und deren Sohn Knut zu gehen haben.

    Das zweite Kapitel schildert die Karriere von Toscas Zirkusdompteurin, die in Realität Ursula Böttcher hieß und mit ihren 1,58 Metern als einzige und erste Frau Eisbären dressierte. Als Ich-Erzählerin präsentiert auch sie sich als eine Fremde – denn sie ist kein Zirkuskind, sondern stößt aus Leidenschaft in ihren 20ern zum Zirkus; zunächst noch als Babysitterin und Putzfrau. Schließlich darf sie mit einer Eselshow auftreten. Doch der Auftritt mit Tosca soll in die Geschichte eingehen: „Der Todeskuss“ zeugt von der tiefen Verbindung der beiden weiblichen Wesen – Tosca entnimmt mit ihrer Zunge ein Stück Würfelzucker, das auf der Zunge der Dompteuse ruht. Im Traum nimmt die Dompteuse Kontakt zu ihrer Tosca auf und die beiden Seelen tauschen sich aus. So beginnt die Dompteuse Toscas Biographie zu schreiben, um sie aus der Vorbestimmtheit durch die Mutter zu befreien.

    Auch das dritte Kapitel wird aus der Ich-Perspektive geschrieben, auch wenn das zunächst nicht auffällt. Denn der kleine Knut hat noch nicht begriffen, dass er über sich in Ich-Form zu sprechen hat und nicht in der dritten Person. Knut erlebt die Welt zunächst als ein Zimmer, in dem sein Pfleger Matthias und ein Tierarzt ein- und ausgehen. Doch er beginnt zu ahnen, dass außerhalb noch eine weitere Welt, nämlich der Zoo, liegt. Und selbst diese Welt wiederum hat eine Außenwelt unbestimmten Ausmaßes. Obwohl Knut im Gegensatz zu seinen Vorfahrinnen nicht im Zirkus auftreten muss, so legt er doch im Zoo seine Show hin: Er spürt, dass das Publikum eine Vorstellung von ihm erwartet. Je älter er wird, desto mehr nimmt das Publikumsgedränge vor seinem Gehege ab. Nichtsdestotrotz will er die Zuschauer weiter entertainen.

    Yoko Tawadas „Etüden im Schnee“ lebt von Grenzgängen zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Tier- und Menschenwelt. Mythen aus der Tier- und Ahnenverehrung werden eingeflochten. Stirbt Knuts Pfleger Matthias vielleicht deshalb so früh, weil Bären die Seelen der Menschen rauben?

    Das Phänomen der Fremdheit wird auch im neuesten Yoko Tawada-Werk thematisiert: Knuts Großmutter begegnet durch die vielen Umzüge besonders oft den Schwierigkeiten und Absonderlichkeiten in einem anderen Kulturraum, die unter anderem auf ein fehlendes Sprachverständnis zurückzuführen sind. Aber auch die Dompteuse muss sich im Zirkus mit einer anderen Welt auseinandersetzen, obwohl sie ihr Land noch nicht einmal verlässt. Und dann sind da auch noch die Tiere im Zoo, die Berlin geboren und aufgewachsen sind – denen aber eine andere Heimat zugeschrieben wird. Knut stammt in den Köpfen der anderen als Eisbär ganz klar vom Nordpol – auch wenn selbst seine Vorfahrinnen den Nordpol nie zu Gesicht bekommen haben.

    Zudem lässt sich die Autorin über den Schreibprozess aus. „Erinnert“ man sich nicht falsch an Vergangenes, selbst wenn man den Fakten treu sein möchte, und haucht so der Vergangenheit eine ganz andere Farbe ein? Und entwickelt sich ein Blick in die Zukunft dagegen nicht vielleicht wie eine selbsterfüllende Prophezeiung?

    Überrascht hat mich, dass die Grundzüge der Handlung doch so nah an dem wahren Leben von Knut und seinen Vorfahrinnen angesiedelt ist. Daher bietet „Etüden im Schnee“ eine enorm vielschichtige Bandbreite an Deutungsmöglichkeiten, die jeder Leser für sich aushandeln kann. Yoko Tawadas Roman hält, was er verspricht: Man möchte den „Etüden im Schnee“ immer weiter lauschen und von ihnen bezaubert werden.

    Bibliographische Angaben:
    Tawada, Yoko: „Etüden im Schnee“, Konkursbuch Verlag, Tübingen 2014, ISBN 978-3-88769-737-2

    Montag, 10. März 2014

    „Glückspforte“ von Hisako Matsubara

    „Wenn die grauen Nebel steigen und die Glücksgeister es für richtig befinden, die Glückspforte zu schließen, dann sei es an der Zeit, hatte der Oyabun gesagt, die Schuhe auszuziehen und sich still in eine Ecke zu verkriechen. Er meinte, es käme auf die Dauer nichts Gutes dabei heraus, wenn man sich dem Beschluss der Glücksgeister widersetze. Nur Falten im Gesicht handle man sich ein und einen Steinmagen, der nichts mehr verdauen könne.“ (S. 5)

    So hat es der Oyabun, der Yakuza-Pate, Uba prophezeit. Uba hatte in jungen Jahren bereits die Chance, durch die geöffnete Glückspforte zu schreiten: Damals kehrte sie aus Europa zurück und wurde als beste japanische Europakennerin hoch gehandelt. Ein Buch über ihre Erfahrungen wurde zum Bestseller. Doch zwischenzeitlich hat das Glück Uba verlassen: Sie ist in die Jahre gekommen; in Japan tummeln sich jüngere Frauen, die sich medienwirksamer als Europaexpertinnen vermarkten. Zudem sind ihr Vater (ein ehemals einflussreicher, doch schließlich gescheiterter Politiker) als auch der Oyabun, der seine schützende Hand stets über Uba hielt, verstorben. Nun liegt Uba auf der Lauer, um die Glückspforte notfalls mit Gewalt aufzustoßen.

    Sie wittert ihre Gelegenheit, als Maxill mit seiner Frau Rosalie in Tokio weilt. Maxill, ein ehemaliger Diplomat und nun in leitender Funktion bei der Deutschen Welle, verehrt alles Japanische – und somit auch die „Dame“ Uba. Der frühere Ruhm Ubas ist Maxill noch präsent und so verwundert es ihn gar nicht, dass sich Uba nach wie vor als angesehene und gefragte Publizistin ausgibt. Die Geschichte einer geschickt eingefädelten Hochstapelei nimmt so ihren Anfang.

    Uba kommt nach einem nur taktischen Zögern Maxills Aufforderung nach, in Deutschland für die Deutsche Welle tätig zu werden. Sie nistet sich im Haus von Maxill und Rosalie zusammen mit ihrem räudigen Hund Piccolo ein und stört gehörig den Haus- und Ehefrieden des Paares.

    Maxill ist geblendet von Ubas Lügenmärchen: Unter anderem sei sie in diplomatischer Mission in Deutschland, um einen Tenno-Besuch vorzubereiten. In dieser Funktion würde sie angeblich sogar den Bundespräsidenten konsultieren. Maxill wittert das Bundesverdienstkreuz und macht sich überall für Uba stark, um seinem Ziel näher zu kommen. Einwände und Bedenken seitens Rosalie, seiner Freunde und Mitarbeiter wischt er hinweg mit der Begründung, dass er als größter Japankenner als einziger befähigt ist, Uba die ihr angemessene Wertschätzung Teil werden zu lassen. Und Uba ihrerseits verbreitet über die japanischen Medien allerhand hochtrabenden Unsinn über ihre Aufgabe in Deutschland. Die Rechnung scheint für sie aufzugehen…

    Hisako Matsubaras „Glückspforte“ ist ein kurzweiliger Roman über den schnöden Schein. So fruchtet Ubas Hochstapelstrategie vor allem bei ihrem japanischen Publikum. In Deutschland kann sie dagegen primär den von seinen eigenen Japankenntnissen geblendeten Maxill hinters Licht führen. Einige Längen hat der Roman durch die eingehenden Beschreibungen von Rosalies Alltag. „Glückspforte“ hätte vielleicht rasanter ausfallen können, wäre der Platz stattdessen für weitere Uba-Manöver genutzt worden.

    Bibliographische Angaben:
    Matsubara, Hisako: „Glückspforte“, Albrecht Knaus Verlag, Hamburg 1980, ISBN 3-8135-0563-4

    Montag, 3. März 2014

    „Der Blitz über dem Reisfeld“ herausgegeben von Mikio Kanda

    Das kleine Dorf Kawauchi-Nukui nahe Hiroshima wurde am 06. August 1945 zum „Dorf der Atombombenwitwen“. Doch nicht nur Männer starben: Eine Einheit von arbeitsfähigen, männlichen und weiblichen Freiwilligen war am Morgen des Tages des Atombombenabwurfs nach Hiroshima gegangen, um Aufräumarbeiten zu leisten und Brandschneisen zu schlagen. Die Arbeiten waren fast am Ende angekommen; nur noch ein halber Tag war nötig, um die restlichen Abtransporte zu leisten. Die Freiwilligen freuten sich darauf, am Nachmittag ihren Alltag im Dorf wiederaufnehmen zu können. Doch das Schicksal sollte es anders mit ihnen meinen: Es waren die letzten Stunden ihres Lebens angebrochen; manche starben vermutlich beim oder kurz nach dem Abwurf. Einige wenige gelangten zwar noch nach Hause zu ihren Familien, hauchten aber kurze Zeit später ihr Leben aus.

    In „Der Blitz über dem Reisfeld“ kommen 16 dieser Atombombenwitwen aus Kawauchi-Nukui zu Wort, die die Herausgeberin Mikio Kanda Anfang der 80er Jahre interviewte. Die Schicksale verliefen ähnlich grausam und doch war das Leid sehr individuell. Die meisten der Frauen entstammten bäuerlichen Familien und daher erlebten sie eine ärmliche Kindheit, zu der bereits seit jungen Jahren die Mithilfe am Hof gehörte. Verheiratet wurden die Frauen wiederum zumeist in Bauernfamilien, in denen der Alltag von stundenlanger, harter Arbeit und nur wenig Schlaf geprägt war. Manche Familien waren schwer von einer Überschwemmung getroffen worden und hatten sich von dem entstandenen Schaden noch kaum erholt, als über Hiroshima die Atombombe abgeworfen wurde. Jede Frau verlor bei dem Abwurf mindestens einen Angehörigen. Die Geschichten über die großteils erfolglose Suche nach den Mitgliedern der Freiwilligeneinheit sind zum Teil schwer zu verdauen: Da ist beispielsweise eine Frau, die den verkohlten und verwesenden Leichen die Münder öffnet, um anhand der Goldkronen zu bestimmen, ob es sich bei dem Toten vielleicht um ihren Mann handeln könnte. Da ist eine andere, die ihre sterbende Verwandtschaft nur noch an der Stimme erkennen kann, da die Körper zur Unkenntlichkeit entstellt sind. Da ist eine junge Mutter, die sich bei der Suche nach dem Ehemann soviel Strahlung zuzieht, dass sie mit ihrer Muttermilch ihr Baby vergiftet.

    Nach Tagen, Wochen oder Monaten des Schocks müssen die Frauen aber wieder hinaus auf das Feld. Ohne die Männer geht ihnen die Arbeit besonders schwer von der Hand. Doch es geht um das weitere Überleben ihrer oft kinderreichen Familien. Unter die Haut gehen dann Schilderungen des Glücks, wenn der im Krieg verstorben geglaubte Sohn doch lebendig zurückkehrt. Oder die unglaubliche Trauer, wenn eine Witwe dazu aufgerufen wird, die Asche ihres als Soldat gefallenen Sohns abzuholen – doch in dem überreichten Holzkästchen befindet sich nur Luft.

    Atombombenliteratur ist immer harte Kost, doch die authentischen Erzählungen der Witwen zeichnen ein besonders grausames Bild einer unüberwindbaren Tragik. Obwohl die meisten der interviewten Damen trotz allen Entbehrungen und allen Leids gut ins hohe Alter gekommen sind, tragen sie die Trauer immer noch mit sich. Besonders schmerzvoll wirkt die Geschichte einer der Witwen, die noch Jahrzehnte später nicht von der Hoffnung ablassen konnte, ihr Mann könnte doch noch gesund zurückkehren.

    Bibliographische Angaben:
    Kanda, Miko (Hrsg.): „Der Blitz über dem Reisfeld“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Akisawa-Schamoni, Mieko & Schamoni, Wolfgang), dtv, München 1985, ISBN 3-423-10467-8

    Sonntag, 2. März 2014

    „Meine Tochter und ich I & II“ von Bunroku Shishi

    „Die Helden dieses Buches sind keine am Schreibtisch ausgedachten Persönlichkeiten, sondern Menschen, die Japan gelebt haben oder noch leben. Ihr tägliches Einerlei, ihre Freuden und Sorgen, ihr Lachen und Weinen – dem Leser ist es, als ob es sich vor seinen eigenen Augen abspielte.“ (Teil I, S. 293)

    So erläutert Wilhelm Schiffer den Grund, warum die Japanisch-Deutsche Gesellschaft in Tokio in den 60er Jahren Bunroku Shishis autobiographisches Werk „Meine Tochter und ich“ in deutscher Übersetzung veröffentlichte. In den 50er Jahren erschien Bunroku Shishis Rückblick auf sein Familienleben erstmalig als Fortsetzungsroman in der Zeitschrift „Shufo no Tomo“. Die Vornamen seiner Frauen und seiner Tochter weichen zwar von der Wirklichkeit ab, aber man darf annehmen, dass die Handlung sehr nah an den realen Begebenheiten angesiedelt ist.

    In selbstironischem Ton beginnt Bunroku Shishi seinen Roman mit der Schilderung der Geburt seiner Tochter, die er hier Mari nennt. Seine erste Ehefrau ist die Französin Helene, die er in Frankreich kennengelernt hatte und – wegen der Schwangerschaft – ehelichte. Hochschwanger kehrt Helene mit dem Ich-Erzähler nach Japan zurück. Helene ist recht anspruchslos, freundet sich mit dem japanischen Essen an und lebt mit ihrem Ehemann beengt in einer kleinen Wohnung. Doch um ihre Gesundheit ist es bald nicht mehr allzu gut bestellt: Bunroku Shishi beschließt, sie zur Pflege zurück nach Frankreich zu bringen. Seine kleine Tochter Mari bleibt zwischenzeitlich bei seiner Schwester in Korea. Mari ist derweil recht unbeeindruckt davon, dass sie vom Vater zeitweilig und von der Mutter längerfristig getrennt  wird. Ohnehin benimmt die Kleine sich manchmal eher wie ein raubeiniger kleiner Junge als ein zartes Mädchen.

    Für Bunroku Sishi ist die Erziehung von Mari kein Leichtes. Wenn er sie um sich hat, kann er nicht Schreiben und nimmt daher kein Geld ein. Hat er kein Geld, kann er Mari niemandem in die Obhut geben. So erlebt der alleinerziehende Autor einen Teufelskreis, aus dem er zunächst keinen Ausweg findet. Nach dem Tod von Helene beschließt er erneut zu heiraten. Freilich strebt er keine Liebesheirat an – er ist auf der Suche nach einer Mutter für Mari. In der geschiedenen Lehrerin Chizuko glaubt er die geeignete Kandidatin zu finden. Doch aller Anfang ist schwer: Einstweilen empfindet Bunroku Shishi gar eine große Abneigung gegenüber seiner zweiten Frau und Mari tanzt ihr auf der Nase herum. Der Ich-Erzähler kommt nicht umhin, seine neue Ehefrau Chizuko permanent mit seiner ersten Ehefrau Helene zu vergleichen. Doch als Chizuko ihren Wunsch nach einem eigenen Kind aufgeben muss, entspannt sich die Situation.

    Das Familienleben pendelt sich zwar nun ein, aber die Zeiten werden stürmischer: Der zweite Weltkrieg beginnt und der Autor schreibt mit „Die Marine“ einen Roman, den die US-amerikanischen Besatzer ihm später ankreiden werden. Die Familie erlebt die letzten Kriegsmonate auf dem Land, um dem Bombenhagel in Tokio zu entgehen. Aufgrund der Wohnungsnot zieht die kleine Familie nach Kriegsende in Chizukos Heimat, nach Shikoku. Dort erlebt Bunroku Shishi eine überraschend angenehme Zeit: Die Lebensmittellage ist weit weniger prekär und in der Gemeinschaft ist er gern gesehen. Doch Mari wird es bald zu fade auf dem Land; sie will zurück nach Tokio. Doch noch ist das Leben in der japanischen Hauptstadt schwierig: Die Lebensmittel sind genauso wie die Wohnungen knapp. Zudem gehen Gerüchte um: Wird Bunroku Shishi wegen seinem Werk „Die Marine“ der Prozess gemacht? Droht im gar die Todesstrafe?

    „Meine Tochter und ich“ beginnt in den 20er Jahren und endet in den 50ern. Über weite Passagen illustriert der Autor primär seinen Alltag; die Handlung ist daher nur mäßig spannend. Der Wert des Werks liegt sicherlich mehr in der Schilderung der generellen Lebensumstände und öffnet die Türen in eine andere Kultur und in eine andere Zeit: Der Leser erlebt die Eheanbahnung auf Japanisch, die Sommerfrische am Strand, die lustigen Witwen vor dem Weltkrieg, die immer schwieriger werdende Lage während des Kriegs, die Besatzung durch die USA und die langsame Rückkehr zur Normalität. Die Schreibeweise von Bunroku Shishi wirkt süffisant, doch zwischendurch nerven die ständigen Betonungen, wie faul und bequem er doch sei. Auch nimmt man dem Autor seine Armut nicht ganz ab – so kann er eine Bedienstete bezahlen und im Sommer ans Meer fahren. Hier werden die Lebensumstände sicherlich überzeichnet dargestellt. Nichtsdestotrotz bietet das zweibändige Werk einen interessanten und dennoch kurzweiligen Einblick in das Japan der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts.

    Bibliographische Angaben:
    Shishi, Bunroku: „Meine Tochter und ich I“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Konami, Hirao und Schiffer, Wilhelm), Die Japanisch-Deutsche Gesellschaft e.V., Tokio 1967
    Shishi, Bunroku: „Meine Tochter und ich II“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Konami, Hirao und Schiffer, Wilhelm), Die Japanisch-Deutsche Gesellschaft e.V., Tokio 1968