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Montag, 29. Dezember 2014

„Extinction“ von Kazuaki Takano

Nun ist Kazuaki Takanos über 550 Seiten starker Roman „Extinction“ doch noch Ende Dezember 2014 statt wie angekündigt Anfang Januar 2015 erschienen. Der Wälzer hat es nicht nur in Bezug auf das hohe Seitenvolumen in sich: Kazuaki Takano schildert ein Szenario, das im Jahr 2005 angesiedelt ist. Der US-amerikanische Präsident Burns genehmigt eine schmutzige Mission in den Kongo, für die eine private Sicherheitsfirma beauftragt wird. Das Ziel der vier ausgewählten Söldner soll die Ausrottung eines Pygmäenstamms sein, der angeblich ein zu 100% tödliches Virus in sich trägt. Doch bald wird den Elitekämpfern klar, dass der angebliche Schutz der Weltbevölkerung vor dem Virus nur ein vorgeschobener Grund für ihre Mission ist. Das eigentliche Ziel ist ein Lebewesen, das unter den Pygmäen weilt. Mitten in den kongolesischen Kriegswirren gilt es bald, nicht nur die eigene Haut zu retten.

Fernab von Afrika hat der Promotionsstudent Kento ganz andere Probleme: Sein Vater ist überraschend gestorben. Kurz nach dessen Tod erhält der junge Mann eine mysteriöse Mail – Absender: der verstorbene Vater. So erhält Kento Anweisungen, was zu tun sein, wenn der Vater plötzlich verschwunden sei. Kento hat ein weißes und ein schwarzes Laptop in seinen Besitz zu bringen und sich in ein verlassenes Wohnhaus zu begeben. Sein Ziel soll die Entwicklung eines Medikaments gegen eine unheilbare Krankheit innerhalb von nur einem Monat sein – ein schier unmögliches Unterfangen. Darüber hinaus bedrängt ihn eine unbekannte Frau, ihr den schwarzen Laptop zu übergeben. Und bald hat Kento auch noch die Polizei auf dem Hals. Auch wenn es zunächst so wirkt, als würde Kento unabhängig von den Kämpfen im Kongo vor sich hinarbeiten, tritt bald eine Vernetzung der Geschehnisse zu Tage.

Die Handlung von Kazuaki Takanos „Extinction“ schwenkt hin und her zwischen Kento in Japan, Afrika mit der zentralen Figur des Söldners Yeager und den USA, wo sich der Analyst Rubens mit dem CIA, dem Präsidenten und eigenen Skrupeln herumschläg. Obwohl der Autor in einem Interview mit Publishers Weekly angibt, die Figur des Präsidenten Burns sei nicht an George Bush jr. angelehnt, so mag man dies kaum glauben. Zu nah wirkt die Namenswahl; auch die Persönlichkeit mit starkem Vaterkomplex, Alkoholproblemen und der Wandel zum geläuterten Christen weisen starke Parallelen zum realen US-Präsidenten der Zeit auf. Auch wenn der Roman zeitlich vor zehn Jahren angesiedelt ist, so sind die Themen immer noch aktuell: Komplettüberwachung durch die NSA, Folterlager der USA, Kriege um Rohstoffe, tödliche Viren in Afrika, Kindersoldaten, Angst vor dem Fremden…

An manchen Stellen erscheint einem die Handlung zwar recht unplausibel (wenn sich Kento bspw. mit einfachen Polizisten herumschlagen muss, während er doch von einer omnipotenten Macht protegiert wird, die mal so eben ein erfolgreiches Attentat auf den US-amerikanischen Vize-Präsident realisieren kann und die Schuld der chinesischen Regierung in die Schuhe schiebt), aber davon abgesehen entfaltet sich in Kazuaki Takanos „Extinction“ ein Szenario, das einen vor Spannung eine Lesenachtschicht einlegen lässt. Während der Handlungsstrang in Afrika aufrüttelt, indem die Grausamkeit des Menschen gegenüber seinen eigenen Artgenossen dargestellt wird, präsentiert die japanische Perspektive jedoch Einblicke in die medizinisch-pharmakologische Forschung, die sicherlich nicht für jedermann interessant sein dürften.

Falls der C. Bertelsmann-Verlag eine zweite Auflage andenkt, dann wäre bestimmt auch noch eine kleine Überarbeitung durchs Lektorat anzuraten. Nicht nur orthographische, sondern leider auch inhaltliche Fehler haben sich in Kazuaki Takanos „Extinction“ eingeschlichen, die man bei der Gelegenheit glatt zurren sollte.

Bibliographische Angaben:
Kazuaki Takano: „Extinction“ (Übersetzung aus dem Englischen: Schmidt, Rainer), C. Bertelsmann, München 2015, ISBN 978-3-570-10185-8

Kazuaki Takano

Der Bestsellerautor Kazuaki Takano wurde 1964 in Tokio geboren. Zunächst begeisterte er sich jedoch primär für das Medium Film; schon als Schüler produzierte er erste Videos. Sein Studium beendete er 1984 vorzeitig, um in den USA Berufserfahrung in der Filmbranche zu sammeln. 1991 kehrt er nach Japan zurück und verdingte sich als Regisseur und Drebbuchautor.

Sein Debütroman „13 Schritte“ wurde im Jahr 2001 mit dem Edogawa Rampo-Preis prämiert. 2011 wurde sein Roman „Extinction“ für den Naoki-Preis nominiert und avancierte zu einem Bestseller.

Interessante Links:

Ins Deutsche übersetzte Romane und hier rezensiert:

Donnerstag, 11. Dezember 2014

„Schwere Blumen“ von Natsuki Ikezawa

Mit „Schwere Blumen“ liegt der zweite ins Deutsche übersetzte Roman des magischen Realisten Natsuki Ikezawa vor. Im Zentrum des Geschehens stehen zwei Geschwister in ihren 20er Jahren: Der große Bruder Tetsuro ist in Bali beim Drogenkonsum von der Polizei erwischt worden – ihm droht nun die Todesstrafe. Seine jüngere Schwester Kaoru eilt ihm zu Hilfe, da sich die Auslands-unerfahrenen Eltern zu hilflos anstellen würden.

Abwechselnd wird die Perspektive des Bruders und der Schwester dargestellt. Tetsuro erlebt im Gefängnis den kalten Entzug, der sehr eindrücklich dargestellt wird. In Rückblenden erfährt der Leser, wie sich der junge Mann als Künstler zu etablieren versucht: Er rebelliert gegen den Vater und dessen Wunsch, einen handfesteren Beruf zu erlernen, er macht sich auf in die Welt, um seinen Stil zu schärfen. Schließlich trifft er in Thailand auf Ingeborg, einer deutschen Finanzbuchhalterin, die ihn zum Heroinkonsum verführt. Während Ingeborg der Droge nicht verfällt, sondern sehr rational damit umgeht, wird Tetsuro zum Junkie, der schließlich in Bali verhaftet wird. Zu großen Teilen ist der Part, in dem Tetsuro eigentlich in der Ich-Perspektive sprechen sollte, in der zweiten Person Singular gehalten. Dies wirkt so, als hätte der Gefangene eine gewisse Abneigung gegen sich – und tatsächlich hat er noch mehr Schuld auf sich geladen, als nur seinen eigenen Körper mit Drogen zu vergiften.

Auch die jüngere Schwester Kaoru ist in die weite Welt hinausgezogen, hat in Paris studiert und jettet als Koordinatorin für Filmteams von Kontinent zu Kontinent. Als Tetsuro verhaftet wird, ist es an Kaoru, nach Bali zu fliegen, und den vom Drogenentzug völlig lethargischen Tetsuro aus voller Kraft zu unterstützen. Denn wie es in der urtümlichen japanischen Mythologie heißt: Die Schwestern sind die Schutzgöttinnen der Brüder. Sie haben die Kraft, Unheil von ihnen abzuwenden. Ein weiteres Motiv der Schadensabwehr wird mehrfach in „Schwere Blumen“ gespielt: Gegen den Strom zu schwimmen, vergeudet nur unnötige Kräfte und wird nicht zielführend sein. Stattdessen gilt es, quer zum Strom zu schwimmen und sich so aus einer misslichen Lage zu befreien.

Natsuki Ikezawa schildert zwar eine an sich realistische Situation, lässt aber an vielen Stellen  religiöse und metaphysische Elemente einfließen: Da ist eine nächtliche Taufe in einem Fluss nahe Paris. Da sind Gedanken um Schutzgötter. Da wird über das Zu-Stein-Werden und das Beten philosophiert. Hin und wieder wird die Handlung auch etwas überspitzt dargestellt. Natsuki Ikezawa kontrastiert zudem auch den europäischen Lebensstil mit dem asiatischen, indem er den Charakter der effizient handelnden, kompromisslosen Ingeborg einführt.

Ein, zwei zentrale Stellen in Natsuki Ikezawas „Schwere Blumen“ hätte ich mir gern noch ein bisschen prägnanter ausformuliert gewünscht. Vergleicht man „Schwere Blumen“ mit dem ersten ins Deutsche übersetzten Natsuki Ikezawa-Roman, so hat mich der „Aufstieg und Fall des Macias Guili“ gerade deswegen so in den Bann gezogen, da die metaphysischen Erfahrungen sehr ausführlich waren und man komplett in die dargestellte Parallelwelt abtauchen konnte. Gerade am zentralen Wendepunkt von „Schwere Blumen“ habe ich dies etwas vermisst.

Nichtsdestotrotz ist „Schwere Blumen“ ein sehr vielschichtiger Roman, den man auf sich wirken lassen sollte. Er lebt von Antagonismen wie Ost/West, Glaube/Nicht-Glaube, gut/schlecht, männlich/weiblich, alt/jung und noch vielen mehr. Sie alle gilt es zu entdecken – und schließlich erwischt man sich dabei, dass man recht sehnsüchtig auf einem Reiseportal nachsieht, wie viel denn ein Trip nach Bali gerade kosten würde.

Bibliographische Angaben:
Ikezawa, Natsuki: „Schwere Blumen“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Mangold, Sabine), Abera, Hamburg 2014, ISBN 978-3-939876-16-8

Dienstag, 2. Dezember 2014

„Licht scheint auf mein Dach“ von Kenzaburo Oe

Hikari bedeutet Licht. Hikari ist– wie Kenzaburo Oe-Leser wissen – der Sohn des Literaturnobelpreisträgers Kenzaburo Oe. Hikari kam mit einer großen Geschwulst am Kopf auf die Welt. Die Ärzte räumten dem Baby zunächst keinerlei Überlebenschancen ein, doch eine riskante Operation überlebte der Junge – wenn er auch in seiner weiteren Entwicklung eingeschränkt blieb. Hikaris Behinderung wurde zum großen literarischen Leitmotiv von Kenzaburo Oe. In „Licht scheint auf mein Dach“ versammeln sich einige sehr persönliche Essays des Autors, in denen er aus seinem Familienleben berichtet, in dem Hikari eine besonders wichtige Position einnimmt. Denn das Achtgeben auf Hikari ist ein wichtiger Bindungsmechanismus für die Familie Oe, die sonst eher durch nur lose Bande verknüpft ist.

Doch Kenzaburo Oe bekennt sich auch zu seinen Schwächen. So gesteht er beispielsweise, dass er den störrischen Hikari einmal in einem Kaufhaus allein ließ und dafür mit einer schweißgebadeten, hektischen Suche nach dem Jungen büßen musste. Oder dass er es verpasst hat, rechtzeitig wichtige Medikamente für seinen Sohn zu besorgen und voller Panik in der Notaufnahme vorstellig wurde. Er beschönigt das Leben mit Hikari auch nicht, wenn er zum Beispiel darüber berichtet, dass Hikari auf dem Weg zur Behindertenwerkstatt einen epileptischen Anfall bekommen und kurz danach in die Hose gemacht hat. Erst in der Behindertenwerkstatt konnte der Autor dem Sohn die Wäsche wechseln.

Hikari, der sich zunächst für Vogelstimmen und dann für klassische Musik interessierte, hat für Kenzaburo Oe im Komponieren eine Ausdrucksform für seine Gefühle gefunden, die ihm auf verbale Weise aufgrund seiner Behinderung verschlossen blieb. Kenzaburo Oe erzählt in „Licht scheint auf mein Dach“ über die Aufnahmen zu den ersten beiden CDs von Hikaris Stücken und wie der junge Mann vor Aufregung einen Anfall bekam. Auch dass ungute Menschen ihm nach den Aufnahmen zynische Postkarten schrieben, Hikaris Musik würde niemals aufgenommen werden, wenn dieser nicht Sohn des großen Schriftstellers Kenzaburo Oe sei, bleibt nicht unerwähnt. Doch für den Autor hat Hikaris Musik eine viel wichtigere Funktion als mit CDs Geld verdienen zu wollen:

„Wenn ich Hikaris Musik höre, spüre ich jedoch, dass im Akt des Ausdrucks selbst die Kraft für seine Genesung liegt. Diese Kraft kuriert sein Herz. Sie heilt nicht nur ihn, sondern auch jene, die empfänglich sind für das, was er sagen will. Darin liegt das Mysterium der Kunst.“ (S. 152)

Während Kenzaburo Oes zweiter Sohn kaum in den Essays auftaucht, so wird doch immerhin der Tochter etwas Platz eingeräumt. Der Leser erfährt, dass die Ma-chan aus „Stille Tage“ nur wenig mit Kenzaburo Oes Tochter gemeinsam hat – wenn auch der fiktive Charakter genauso wie die Tochter über einen besonders runden Schädel verfügen. Ohnehin war die Tochter nie darüber begeistert, ihrem Vater Stoff für seine Werke zu liefern und dass dieser ihre Privatsphäre partiell öffentlich machte.

Der Leser erfährt in „Licht scheint auf mein Dach“ auch mehr über das Wesen und die Motivationen von Kenzaburo Oe:

„Schreibe ich nicht deswegen Bücher, um meinem grundlegenden Gefühl Ausdruck zu verleihen, dass ich mich in dieser Welt zu Hause fühle? Mein Traum ist es jedoch, darin auch den Weg zu dem ausdrücken zu können, was unsere Welt übersteigt.“ (S. 123)

„Licht scheint auf mein Dach“ ist sicherlich nicht das Werk, das man als erstes Kenzaburo Oe-Buch lesen sollte. Wer jedoch schon einige der Romane, in denen der Schwerpunkt auf Hikari alias I-Ah liegt, gelesen hat, der empfindet die Essays vielleicht als großes, umfassendes Nachwort zu den belletristischen Werken und erhält Hintergrundinformationen aus erster Hand, wie der Autor Kenzaburo Oe denn so tickt.

Bibliographische Angaben:
Oe, Kenzaburo: „Licht scheint auf mein Dach“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Bierich, Nora), S. Fischer, Frankfurt am Main 2014, ISBN 978-3-10-055217-4

Montag, 1. Dezember 2014

„Freiwillige Selbsthinrichtung“ von Masahiko Shimada

Seit das Cover von Masahiko Shimadas „Freiwillige Selbsthinrichtung“ im Frühling dieses Jahres feststand, habe ich auf die Veröffentlichung hingefiebert. Jetzt ist es endlich soweit: Der erste ins deutsche übersetzte Roman von dem unkonventionellen Autor Masahiko Shimada ist publiziert – wenn auch der Titel auf den ersten Blick nicht sonderlich Lust aufs Lesen macht. Doch die initiale Assoziation täuscht gewaltig: Der Roman könnte gar nicht weiter weg von depressiven, Selbstmord-geschwängerten Gedankengängen angesiedelt sein, sondern wirkt passagenweise eher wie Slapstick auf Speed.

Masahiko Shimada führt den Protagonisten zunächst als den namenlosen „Mann auf Reisen“ ein; erst später gibt er ihm den Namen Yoshio Kita. Insofern ist Yoshio Kita ein jedermann, der Name ist nicht mehr als ein Platzhalter. Masahiko Shimada spricht in seinem kurzen Nachwort an, dass wahrscheinlich schon jeder – sei es noch so kurz und sei es noch so vage – mit dem Gedanken an Selbstmord gespielt hat. Doch sein Protagonist Kita wird konkret und setzt sich im wahrsten Sinne des Wortes eine Deadline: In einer Woche, am kommenden Freitag, will er aus freiem Entschluss das Zeitliche segnen. In dieser Woche will Kita, der eigentlich gar nicht so genau weiß, wie er sich amüsieren soll, nochmal ordentlich einen drauf machen. Am Grab seines Vaters hat er bereits Abschied genommen, seine verwitwete, allein lebende Mutter möchte er noch ein letztes Mal sehen, aber ansonsten hat er noch keinerlei Pläne für seine letzten Tage geschmiedet.

Eine zufällige Begegnung zieht Kita in einen Strudel von Fremdbestimmtheit, Weibergeschichten, Versicherungsbetrug, Organhandel und Rauschzuständen: Nachdem Kita vom Grab seines Vaters in Dazaifu nach Tokio zurückgekehrt ist, teilt er sich ein Taxi mit dem zwielichtigen Yashiro, der sich zwar als Filmproduzent ausgibt, seine Finger aber in allerhand dunklen Machenschaften hat. Yashiro hat wie ein Bluthund einen Sinn dafür, wie er Kitas selbstmörderische Absichten für sich nutzbar machen kann und nimmt die Fährte auf. Zunächst vermittelt er Kita den Kontakt zu einem Porno-Sternchen und deren Clique. So lernt Kita unter anderem auch Zombie alias Izumi kennen, die als „unsterbliche“ Todeskandidatin in ihrem Freundeskreis bekannt ist. Niemand hat so viele fehlgeschlagene Selbstmordversuche auf dem Buckel wie sie. Mit Zombie und der Pornodarstellerin Mitsuyo begibt sich Kita in ein Onsen und plant mit den beiden seine nächsten Schritte. Was möchte er die letzten Tage seines Lebens noch erleben? Seine Ex-Freundin wiedersehen? Mit dem Starlet, das er anhimmelt, verkehren? Yashiro als Strippenzieher im Hintergrund macht einiges möglich – inklusive einer Erhöhung von Kitas knapper werdendem Budgets durch den Vorabverkauf von Kitas Organen. Doch Kita durchschaut sehr wohl, dass Yashiro ihn fernsteuert und ihm die Freiheit nimmt, seine letzten Tage nach freiem Gusto zu verleben. Zusammen mit dem Starlet verschwindet er; gemeinsam fingieren sie eine Entführung und werden so schnell zu Gejagten.

Auch wenn „Freiwillige Selbsthinrichtung“ kein purer Road-Trip ist, so trifft Kita doch „on the road“ allerhand Menschen, die ihre eigene Meinung und ihre eigenen Geschichten zum Thema Selbstmord haben. Da ist zum Beispiel Zombie, die mehr oder minder aufgrund von Nichtigkeiten Selbstmordversuche begeht und dabei Gott sei Dank immer wieder scheitert. Da ist das Starlet, das durch eine Marketing-Maschinerie gepresst wird, ihren Trost in der Bibel findet und daher Selbstmorde aus religiösen Gründen ablehnt. Da ist der Vater eines Chirurgen, der sich für einen langsamen Selbstmord entschieden hat, indem er sich zu Tode frisst. Da ist das alte Pärchen, das sein Haus verkauft hat, und ziellos durch Japan zieht, um den „Tod am Wegesrand“ zu finden. Masahiko Shimada schreibt in seinem Nachwort zu „Freiwillige Selbsthinrichtung“:

„Jugendlichen, die den Selbstmord mythifizieren […], wollte ich zeigen, Selbstmord ist nur lächerlich, also lasst es!“ (S. 242)

Und tatsächlich beschreibt der Autor Kitas Selbstmordgedanken und die Zeit bis zur Deadline als spaßiges, aber auch spannungsgeladenes Treiben. Doch er zeigt auch auf, dass der Selbstmord in erster Linie grausam, schmerzhaft und sinnlos ist. „Freiwillige Selbsthinrichtung“ wurde laut des Nachworts von Thomas Hackner durch die Erzählung „Leben zu verkaufen“ von Yukio Mishima, dem obersten literarischen Verklärer des Selbstmords, inspiriert. Jedoch verschreibt sich Masahiko Shimada einer Gegenposition zu Mishima.

Auch wenn Selbstmord das zentrale Thema von „Freiwillige Selbsthinrichtung“ ausmacht, streift Masahiko Shimada diverse andere gesellschaftliche Schieflagen: Junge Frauen machen ihren Körper zu Kapital, mit Organen wird Handel getrieben, senile Menschen werden sich selbst und ihrer eigenen Welt überlassen, Nicht-Essen oder Überfressen werden zum Ventil…

So schreibt Masahiko Shimada einen gesellschaftskritischen Roman, der an keiner Stelle langweilig oder dröge ist. Der Autor legt den Finger in so manche Wunde der postmodernen Gesellschaft – jedoch immer in ironischer, manchmal amüsanter Art und Weise. Wer hätte gedacht, dass ein Buch, das dem Selbstmord gewidmet ist, tatsächlich Spaß beim Lesen machen kann. Insofern hat Masahiko Shimada eine Punktlandung hingelegt und seinen eigenen Anspruch bezüglich der Entmystifizierung des Selbstmordkultes voll erfüllt: „Selbstmord ist lächerlich, also lasst es!“ (S. 242)

Bibliographische Angaben:
Shimada, Masahiko: „Freiwillige Selbsthinrichtung“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Hackner, Thomas), Abera, Hamburg 2014, ISBN 978-3-939876-15-1

Sonntag, 30. November 2014

„Trauriges Spielzeug“ von Takuboku Ishikawa

Das Tanka ist in seiner Funktion für Takuboku Ishikawa ein „Trauriges Spielzeug“. Der Autor verzweifelt an der Gesellschaft, er erlebt sich als ein

„Opfer des heutigen Familiensystems, Klassensystems, Kapitalsystems, des Systems der Käuflichkeit des Wissens“ (S. 102).

Wenn er könnte, so hat der Leser das Gefühl, würde er sämtliche soziale Regeln hinwegfegen und nach Gutdünken handeln. Doch im Einflussbereich von Takuboku Ishikawa befindet sich lediglich das Tanka. Das Tanka, das bisher in eine Zeile geschrieben wurde und exakt 31 Silben umfasste, kann der Autor revolutionieren. Wieso soll das Gedicht nicht in zwei oder drei Zeilen gesetzt werden? Und warum sollte man sich auf 31 Silben beschränken, wenn das auszudrückende Gefühl noch ein paar mehr Silben bedarf? Und warum nicht in der Alltagssprache schreiben? Nichtsdestotrotz wirft alles Experimentieren mit dem Tanka doch einen Schatten zurück: Ein „Trauriges Spielzeug“ ist das Tanka im Vergleich mit der Unfähigkeit des Autors, an den gesellschaftlichen Maßstäben zu rütteln.

Der Band „Trauriges Spielzeug“ enthält Tagebuchaufzeichnungen, Tanka und Shi (Gedichte nicht-japanischer Art). Insbesondere die Tagebucheinträge, die Takuboku Ishikawa in lateinischer Schrift verfasste, damit sie seine Ehefrau nicht entziffern konnte, geben einen intensiven Einblick in die Gefühlswelt des Autors:

„Ah die Literatur ist mein Feind. Und meine Philosophie ist nichts weiter als der Spott über mich selbst! Ich wünsche mir viele Dinge, aber ist es tatsächlich nicht einfach nur eine Sache? – Geld!“ (S. 22)

Das mangelnde Geld steht zwischen einer Wiedervereinigung mit seiner Familie, als Takuboku Ishikawa allein in Tokio weilt. Einerseits sehnt er sich nach seinen Angehörigen, andererseits scheinen ihn die familiären Verpflichtungen zu erdrücken. Er sieht sich als Individualisten, der sozialem Umgang keine positiven Anreize abringen kann, sondern dies als Zeitverschwendung ansieht. Takuboku Ishikawa formuliert seine Lebensmaxime wie folgt:

„Werde nicht von den Menschen geliebt! Empfange keine Wohltaten! Versprich nichts! Tu nichts, wofür du andere um Erlaubnis bitten musst! Rede auf keinen Fall zu anderen über dich selbst! Trage immer eine Maske! Sei bereit, jederzeit zu kämpfen! – jederzeit dem anderen auf den Kopf zu schlagen! Wenn du mit jemandem Freundschaft schließt: vergiss nicht, dass du irgendwann bestimmt mit ihm brechen wirst!“ (S. 45)

Freilich zeigen die Texte auch, dass Takuboku Ishikawas Leben und seine Lebensphilosophie allein aus finanziellen Gründen auseinander klaffen mussten.

Die Tanka in „Trauriges Spielzeug“ zeugen von aktuellen Ereignissen wie Takuboku Ishikawas Krankenhausaufenthalten oder der einsetzenden Sozialistenverfolgung. Doch auch die Sehnsucht nach dem Landleben, nach der Heimat wird thematisiert. Überhaupt steht Takuboku Ishikawa dem Stadtleben kritisch gegenüber: Das hektische Treiben in der Stadt schärft zwar die Sinne der Bewohner, doch die Moralität sinkt. Und natürlich liegen gesellschaftskritische Tanka vor wie z.B.

„jedem Menschen
sitzt im Herzen
ein Gefangener
jämmerlich
stöhnend“
(S. 77)

oder

„Kopf mein Kopf
denkst du
auch dieses Jahr
lauter Dinge
undurchführbar
in dieser Gesellschaft“
(S. 105)

Wolfgang Schamoni merkt im Nachwort zu „Trauriges Spielzeug“ an, dass die auch noch heute andauernde Faszination von Takuboku Ishikawa unter anderem darin begründet sein mag, dass der Autor einem romantischen Dichterbild entspricht. Der geniale, arme, zu Lebzeiten wenig bekannte Takuboku Ishikawa erkrankte und starb bereits im Alter von 26 Jahren.

Obwohl die Texte im japanischen Original schon vor mehr als 100 Jahren entstanden, sind die Themen immer noch höchst aktuell – insbesondere der Gegensatz von Individuum und Gesellschaft wird ein Motiv mit ewiger Gültigkeit bleiben. So fasziniert das Werk von Takuboku Ishikawa immer noch und lässt bei vielen Fragestellungen inne halten: Was hat sich in 100 Jahren zum Besseren gewandt, welche Phänomene haben sich eher verschärft? Damit lässt sich „Trauriges Spielzeug“ als Kritik auch an der heutigen Gesellschaft lesen.

Bibliographische Angaben:
Ishikawa, Takuboku: „Trauriges Spielzeug“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Schamoni, Wolfgang), Insel, Frankfurt am Main/Leipzig 1994, ISBN 3-458-16604-1

Donnerstag, 27. November 2014

Takuboku Ishikawa

Takuboku Ishikawa
(Creative Commons Lizenz)
Eigentlich könnte ich es mir sparen, biographische Daten von Takuboku Ishikawa zu sammeln und direkt auf Ruth Linharts Homepage mit ausführlicher Zeittafel verweisen. Nichtsdestotrotz sollen der Vollständigkeit halber einige Worte über den Autor fallen, der in Japan jedermann bekannt ist. Wie Wolfgang Schamoni in seinem Nachwort zu Takuboku Ishikawas „Trauriges Spielzeug“ schreibt, mag die Popularität des Autors unter anderem auch darin begründet sein, dass dieser einem romantischen Dichterbild entspricht: „genial, arm, krank, früh gestorben“ (S. 155).

Takuboku Ishikawa wurde 1886 (ggf. auch schon 1885) als Hajime Ishikawa und Sohn eines Zen-Priesters in der Präfektur Iwate geboren. Um die höhere Grundschule zu besuchen, wurde Takuboku Ishikawa zu einem Verwandten in die Präfekturhauptstadt geschickt. Auf der Mittelschule verliebte er sich 13-jährig in seine spätere Ehefrau Setsuko und begann sich für Literatur zu begeistern. Im Jahr 1901 veröffentlichte er seine ersten Tanka. Ein Jahr später begann er, den Dichternamen Takuboku (= Specht) zu verwenden.

Takuboku Ishikawas schulische Leistungen fielen ab, bis er schließlich die Mittelschule verlassen musste. Er ging nach Tokio, wo er aber weder eine neue Schule noch eine Arbeit finden konnte, um schließlich 1903 krank von seiner Familie zurück nach Hause geholt zu werden. Ein Jahr darauf verlor sein Vater aufgrund finanzieller Unregelmäßigkeiten sein Amt als Priester und die Familie wurde zunehmend von Armut bedroht.

1905 fand die Hochzeit von Tokuboku Ishikawa und Setsuko statt – jedoch ohne den Bräutigam, der seinen Weg nicht rechtzeitig von einem Besuch in Tokio zurück in die Heimat gefunden hatte. Zwar erhielt Tokuboku Ishikawa eine Anstellung als Hilfslehrer, die er jedoch aufgrund seiner progressiven Haltung schnell wieder verlor. Der Autor ging daraufhin nach Hokkaido, später ein zweites Mal nach Tokio, wo er unter anderem Ogai Mori kennenlernte. Mit ersten naturalistischen Erzählungen scheiterte er; jedoch schrieb er mehrere hunderte Tanka.

1910 schockierten Tokuboku Ishikawa die Verhaftungen von Sozialisten im Rahmen der Kotoku-Affäre, die sich um ein angeblich geplantes Attentat auf den Kaiser rankte. So begann er sich immer stärker für den Sozialismus und die des Hochverrats angeklagten Sozialisten zu interessieren.

1911 musste Tokuboku Ishikawa wegen einer chronischen Bauchfellentzündung operiert werden; 1912 verstarb er an einer Tuberkulose.

Interessante Links:

Ins Deutsche übersetzte Werke und hier rezensiert:

Samstag, 15. November 2014

„Als die erste Atombombe fiel“ herausgegeben von Hermann Vinke

Wie kann man einem so unvorstellbaren Grauen wie dem der Atombombenabwürfe über Japan in einem Buch überhaupt gerecht werden? Es ist ein schieres Ding der Unmöglichkeit, die katastrophale Wirkung und das Ausmaß dieser ultimativen Waffen in ein einziges Werk zu bannen. „Als die erste Atombombe fiel“ öffnet eine Tür in den apokalyptischen Horror des Atombombenabwurfs über Hiroshima, indem der Band die Erinnerungen von Kindern präsentiert und die Geschehnisse in einen Zusammenhang stellt und kommentiert.

Da ist die Katastrophe selbst, die binnen einer Sekunde Menschen komplett verbrennt und in einen Schatten verwandelt, der sich in einen Mauerrest einbrennt; die Menschen aufdunsen und sich vor Durst in Wasserbecken und Flüssen ertränken lässt; die Familien auslöscht, Waisen zurücklässt. Doch da sind auch die Spätfolgen: Die Strahlung wirkt wie eine tickende Zeitbombe, bei der niemand weiß, wann der Zünder losgehen wird. Da ist der Jahrestag des Abwurfs, der alte Wunden immer und immer wieder aufreißt. Da ist der Korea-Krieg, der die Überlebenden vor Angst vor einem neuen Atomkrieg in den Selbstmord treiben kann.

Yoichi Fukushima, Sprecher der „Kinder von Hiroshima“ stellt auch die Schwierigkeiten dar, auf die Professor Osada, der die Kindererinnerungen sammelte, stieß. Für seine Veröffentlichung musste er nicht nur aus mehr als 3.000 ergreifenden Manuskripten auswählen, sondern auch abwarten, da er unter der US-amerikanischen Besatzung, die Berichte über die Unmenschlichkeit der Atomwaffen unterdrückte, die Erinnerungen der Kinder nicht publizieren konnte.

Jedes der Einzelschicksale berührt: Shigehiros Bruder hat das Frühstück schon vor seinen Geschwistern beendet und rennt kurz vor dem Abwurf nach draußen - zunächst hat er nur Brandwunden, dann dunst er auf zu einer Buddhafigur, Maden kriechen durch die eitrigen Wunden, bis er schließlich stirbt. Toshihiko und sein Vater laufen auf der Suche nach Mutter und Bruder an einem brennenden Haus vorbei, in dem ein Säugling schreit. Sie sind hilflos und müssen das Baby sterben lassen. Mutter und Bruder waren auf einem Arbeitsdienst und sterben nach dem Abwurf. Toshihiko legt seinem Bruder Bonbons in den Sarg und kann zunächst gar nicht fassen, dass er nun nur noch seinen Vater hat. Susumu geht zusammen mit seinem Vater auf die Suche nach der Schwester an einer Böschung vorbei, auf der eine Gruppe dahinvegetierender, aufgedunsener Schüler liegt und um Wasser bittet. Am nächsten Tag liegen die Schüler dort immer noch; viele sind bereits tot, die Überlebenden können nicht mehr sprechen, einer kann noch ein „Lebt wohl“ flüstern.

Doch „Als die erste Atombombe fiel“ erschöpft sich nicht in Nacherzählungen der Geschehnisse. So findet sich dort auch ein Interview aus dem Magazin metall mit Paul W. Tibbets, der damals die Atombombe über Hiroshima abwarf. Der Kontrast zwischen den emotionalen, traurigen Erzählungen und dem kaltherzig wirkenden Soldaten, der nur auf seine militärische Pflicht verweist, könnte kaum größer sein.

Auch zeigt Herausgeber Hermann Vinke auf, wie die Amerikaner systematische Forschung über die Auswirkung der Strahlung betrieben und den Überlebenden nicht nur aus humanitären Gründen halfen; die Opfer wurden zu Forschungsobjekten. Aber er macht auch darauf aufmerksam, dass den Opfern mit koreanischer Abstammung jahrzehntelang Hilfe in Japan verwehrt wurde. Erst Mitte der 70er Jahre konnte eine Selbsthilfegruppe Rechte für die koreanischen Hibakusha einfordern.

So präsentiert „Als die erste Atombombe fiel“ auch einen Überblick über das Danach. Es geht zu Herzen, wenn man liest, dass die meisten der Überlebenden über ihre nach dem Krieg geborenen Kinder sagen: „Sie sind alle gesund.“ – Doch die geheime Angst vor Erbschäden scheint in diesen Worten immer mitzuschwingen.

An dieser Stelle auch noch ein kleiner Hinweis: „Als die erste Atombombe fiel“ enthält eine kleine Auswahl von Professor Osadas gesammelten Manuskripten. Noch mehr dieser Kindererinnerungen finden sich in „Kinder von Hiroshima“ (Volk & Welt-Verlag bzw. als Lizenzausgabe im Röderberg-Verlag).

Bibliographische Angaben:
Vinke, Hermann (Hrsg.): „Als die erste Atombombe fiel“ (Übersetzung aus dem Englischen: Polz, Karin), Ravensburger, Ravensburg 1992, ISBN 3-473-58062-7

Freitag, 14. November 2014

„Saikaku-oridome“ von Saikaku Ihara

Saikaku Ihara gilt als DER Autor des Chonin-Milieus, des städtischen Handelsmilieus des 17. Jahrhunderts. Mit „Saikaku-oridome“ glaubt sich der Leser in einem authentischen Sittengemälde wiederzufinden – insbesondere mit einem Einblick in die Kurtisanenkultur der damaligen Zeit. Das postum veröffentlichte Werk ist geprägt von der buddhistischen Lehre der Vergeltung von guten und schlechten Taten – Fleiß allein genügt für die Protagonisten nicht, Reichtum zu erlangen. Vielmehr legt Saikaku Ihara den Finger in die Wunde, dass Kapital zu Kapital wandert, während die Armen sich abstrampeln können, soviel sie wollen – der Erfolg wird ihnen nicht sicher sein.

Acht Geschichten enthält die deutsche Übersetzung von „Saikaku-oridome“. Den Beginn macht „Nur der Kiefernpilz kommt scheinbar aus dem Nichts wie die Bälle des Gauklers“. Die Erzählung illustriert das Leben von Kaufleuten ohne Eigenkapital: Der Gewinn durch den Handel wird durch die Zinsen an die Kapitalgeber, bei denen man sich immer wieder einschmeicheln muss, direkt wieder aufgefressen. Ein findiges Ehepaar jedoch macht aus der Not eine Tugend.

In „Der Lauf des Hozu-Flusses und ein reicher Mann aus Yamazaki“ nimmt ein Händler einen blinden Affen bei sich auf und umsorgt ihn. Als der Kaufmann am Ende des Jahres wegen einer geringen Summe seine Schulden nicht begleichen kann, beschließt er mit Sack und Pack Reißaus zu nehmen. Den Affen muss er leider zurücklassen, doch das Haustier scheint zum Retter in der Not zu werden.

„Der stillzufriedene Salzverkäufer“ ist ein Musterbeispiel an Ehrlichkeit und Genügsamkeit: Mit dem Salzhandel macht er keine sonderlichen Umsätze und lebt so von einem Tag in den nächsten. Selbst als er eines Tages eine prall gefüllte Geldbörse findet, wacht er redlich darüber, bis sich der wahre Besitzer bei ihm einstellt.

„Die Vergnügungen des Menschen sind kurz wie ein Tag, der im Morgengrauen entsteht und im Abenddämmern stirbt. Wenn man es recht bedenkt, ist das Menschenleben ein Traum während eines kurzen Schlafes.“ (S. 32)

So leitet Saikaku Ihara die Erzählung „Aus einer Unbesonnenheit des Augenblicks entstand die Sinneslust“ ein und spricht die „fließend-vergängliche Welt“ an. Fließend-vergänglich ist aber auch der Reichtum eines jungen, knauserigen Mannes, der plötzlich seinen Gefallen an der käuflichen Liebe entdeckt. Zunächst gibt er sich noch mit einem Bademädchen zufrieden, dann kauft er sich eine Kakoi, schließlich eine Tenjin, bis er schließlich sein Geld für eine Kurtisane des höchsten Ranges, eine Tayu, verprasst. Wie lange er sich die Tayu wohl noch leisten kann?

Eine Lästerei über „Die große Nase der Hauswirtin“ führt dazu, dass ein Ehepaar die bisherige Wohnung verlassen muss. Die Wohnungssuche führt zu allerlei Unbequemlichkeiten: In der einen Nachbarschaft zieht eine Verrückte umher, in einem anderen Haus scheint es zu spuken, wo anders wimmelt es vor Kakerlaken. Ob die Ehe dieser Belastung Stand halten wird?

„Von einem Tag auf den anderen in der Dienstbotenherberge leben“ porträtiert das Leben von Dienstmädchen, die aufgrund der schlechten Wirtschaftslage auf dem Land in die Stadt drängen, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, während „Auch Helm und Rüstung zum Pfandleiher“ diverse Absonderlichkeiten illustriert, die die Menschen ins Pfandhaus tragen. So verpfänden die Kurtisanen beispielsweise „Gelöbnisbriefe“ mit erfundenen Peinlichkeiten, die sie ziemlich in die Bredouille bringen könnten, sollten sie das geliehene Geld nicht zurückzahlen.

„Der unbeständige Sinn einer Hofdame“ beschreibt den sozialen Abstieg der Hofdame Uguisu no Tsubone, der beginnt, als sie aus einer Unbesonnenheit heraus einen Bürgerlichen heiratet.

Wer sich insbesondere für die damaligen Gepflogenheiten im Freudenviertel interessiert, der dürfte durch den Zeitgenossen Saikaku Ihara viel Authentisches erfahren. Die vielen Fußnoten erläutern detailliert, was damals Usus war: Blieb eine Kurtisane z.B. an einem Feiertag ohne Freier, so musste sie ihrem Zuhälter den entgangenen Gewinn aus eigener Tasche erstatten. Doch auch das Leben der Dienstboten und Händler wird anschaulich illustriert. Daher wirkt „Saikaku-oridome“ wie ein Guckloch in eine längst vergangene Zeit.

Bibliographische Angaben:
Ihara, Saikaku: „Saikaku-oridome“ (Übersetzung aus dem Japanischen: May, Ekkehard), Reclam, Stuttgart 1973, ISBN 3-15-009493-3

Sonntag, 26. Oktober 2014

„Von Männern, die keine Frauen haben“ von Haruki Murakami

Nur ein halbes Jahr mussten Haruki Murakami-Fans auf die die deutsche Übersetzung des japanischen Originals von „Von Männern, die keine Frauen haben“ warten. Optisch hat der Dumont-Verlag ein fantastisches Cover kreiert – auf dem jedoch ein sperriger Titel prangt. Die englische Version geht mit „Men without Women“ schon viel leichter über die Lippen.

„What I wish to convey in this collection is, in a word, isolation, and what it means emotionally.“, sagt Haruki Murakami im Interview mit dem New Yorker über seinen Erzählband.

Das Gefühl der Isolation durchsetzt mit schwierigen Beziehungen zum anderen Geschlecht ist ohnehin ein klassisches Murakami-Thema. Mit „Von Männern, die keine Frauen haben“ präsentiert der Autor sieben neue „long short stories“ zu diesem Bereich.

Mit „Drive my Car“ betätigt Haruki Murakami den Anlasser des Bandes – und rekurriert nach „Norwegian Wood“ (aka „Naokos Lächeln“) erneut auf einen Beatles-Song. Auch wenn die Liedzeilen von „Drive my Car“ nicht wirklich zur Handlung der gleichnamigen Erzählung passen, so kommen doch einige Motive darin vor: ein Schauspieler, eine Chauffeurin und Sex. Der Schauspieler Kafuku ist von seiner Agentur dazu verdonnert worden, sich eine Weile fahren zu lassen, statt selbst seinen Saab durch die Stadt zu lenken. Auch wenn Kafuku von Frauen als Autofahrerinnen nicht allzu viel hält, stellt er die raubeinige Misaki auf eine Empfehlung hin ein. Ihr offenbart er während der gemeinsamen Autofahrten intime Details aus seiner Vergangenheit und seiner Ehe mit seiner zwischenzeitlich verstorbenen Ehefrau.

Mit „Yesterday“ wird das Beatles-Thema wiederum aufgenommen. Kitaru, ein Freund des Ich-Erzählers aus Studententagen, verballhornt und trällert den Beatles-Hit mit Nonsense-Übersetzungen ins Japanische. Wie ein düsteres Omen hängen diese Textzeilen über Kitarus Beziehung zu dessen Jugendliebe Erika.

Die dritte Erzählung „Das eigenständige Organ“ fällt für mich etwas aus dem Band heraus, weil der Protagonist Tokai kaum greifbar wird. Es wird zwar viel über ihn berichtet, aber sein Bild und sein Leid, als er sich unglücklich verliebt, bleiben diffus.

Geheimnisvoll wie tausendundeine Nacht wird es in „Scheherazade“: Aus ungenannten Gründen muss Habara abtauchen. Sein einziger Kontakt zur Außenwelt ist eine Hausfrau, die Habara Scheherazade nennt – denn genauso wie die arabische Märchengestalt erzählt die Frau ihm Geschichten, die an einem Höhepunkt abbrechen. Jedoch schläft sie nicht des Nächtens mit ihm, sondern am Spätnachmittag. Während eines dieser Stelldicheins erzählt sie Habara unter anderem von ihrer Karriere als jugendlicher Stalkerin.

„Kinos Bar“ ist keine Kneipe, in der das Leben tobt – vielmehr ist sie ein Rückzugsort für ihren Besitzer Kino. Hier leckt Kino seine Wunden, die ihm die Trennung von seiner Ehefrau zugefügt hat. Doch das bequeme, aber leere Leben sollte Kino besser nicht länger weiterführen…

„Samsa in Love“ verspricht eine Umkehrung von Kafkas „Verwandlung“: Eines Tages wacht „er“ als Gregor Samsa auf – und muss sich nicht nur an das Leben als Mensch gewöhnen, sondern verliebt sich auch noch Knall auf Fall in eine bucklige Frau vom Schlüsseldienst.

Der Selbstmord seiner ehemaligen Geliebten ist der Auslöser für den Ich-Erzähler, sich Gedanken „Von Männern, die keine Frauen haben“ zu machen:

„Zu Männern, die keine Frauen haben, zu werden ist ganz leicht. Man braucht nur eine Frau leidenschaftlich zu lieben, die dann verschwindet. […] Und sobald ihr einmal Männer seid, die keine Frauen haben, dringt die Farbe der Einsamkeit tief in eure Körper ein. Wie verschütteter Rotwein in einen hellen Teppich.“ (S. 249)

„Das eigenständige Organ“ und die Erzählung „Von Männern, die keine Frauen haben“ haben mit am wenigsten in den typischen Murakami-Bann gezogen. Die mysteriösen bzw. kafkaesken Erzählungen „Kinos Bar“ und „Samsa in Love“ zählen für mich zu den Highlights des Bandes, die nur allzu sehr für eine Fortschreibung als Roman taugen würden.

Bibliographische Angaben:
Murakami, Haruki: „Von Männern, die keine Frauen haben“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Gräfe, Ursula), Dumont, Köln 2014, ISBN 978-3-8321-9781-0

Samstag, 25. Oktober 2014

„Hana Bälz – Die Frau des Japanarztes Erwin Bälz“ von Ume Kajima

Wer von Ume Kajimas Werk genau das erwartet, was im Titel angekündigt wird – nämliche eine Biographie der Frau des Japanarztes Erwin Bälz, namentlich Hana Bälz, den wird die Lektüre etwas enttäuschen. Denn allzu viel Biographisches und Persönliches bleibt im Dunkeln. Es entsteht nur ein vages Bild des Charakters und der Gedankengänge der Hana Bälz, die doch allein durch ihren Lebenslauf sicherlich eine sehr spannende Persönlichkeit war.

1864 wurde Hana Bälz als Hatsu Arai geboren, ab 1887 oder 1888 lebte sie mit dem nach Japan gekommenen Medizin-Dozenten Erwin Bälz, der 15 Jahre älter als Hana war, in (wilder) Ehe. Es ist nur zu vermuten, dass sich das Paar in einem Café kennengelernt hat. Doch wie es sich zu lieben lernte, darüber weiß Ume Kajima leider nichts zu berichten. Auch nicht, ob Hanas Verwandte ihren Umgang mit einem Gaijin befürworteten oder ablehnten.

Die Persönlichkeit der Hana wird am prägnantesten dargestellt, als die gemeinsamen Kinder des Ehepaars geboren sind. Toku wird 1889 geboren, Uta 1893. Uta stirbt noch jung, was Hana in tiefste Verzweiflung stürzt. Als Toku mit elf Jahren nach Deutschland zur Ausbildung geschickt wird, ist der Abschied vom Kind ebenfalls sehr schwer für Hana.

Im Jahr 1905 kehrt Erwin Bälz zusammen mit seiner nunmehr getauften Frau Hana nach Deutschland zurück. Er stirbt acht Jahre später. Hana erlebt den ersten Weltkrieg in Deutschland; wird aber trotz ihrer Abstammung von dem verfeindeten Japan - wie Ume Kajima nicht müde wird zu betonen - in der neuen Heimat geachtet. 1922 kehrt sie nach Japan zurück und hofft darauf, die Ersparnisse, die Erwin Bälz dort angelegt hatte, abheben zu können. Doch während des Weltkriegs wurde das Eigentum des Feindes verstaatlicht. Mit Hilfe von Bekannten kann sie aber dennoch ein bequemes Leben in Japan führen. 1933 schreibt sie gar ein Buch über ihr Leben in Deutschland während des ersten Weltkriegs. 1937 stirbt Hana Bälz schließlich.

Sehr viel mehr erfährt der Leser über Erwin Bälz, der sich in Japan als Dozent, Befürworter von Kurorten und Hofarzt der Kaiserfamilie verdient gemacht hatte. Aus seinen Briefen liest man seine Fürsorge für seine Hana, die sich darum sorgte, ob Erwin Bälz sie nicht vergessen würde, als er zu längeren Aufenthalten nach Deutschland fuhr. So mag Ume Kajimas Werk „Hana Bälz – Die Frau des Japanarztes Erwin Bälz“ mehr für diejenigen Leser geeignet sein, die sich für die Persönlichkeit von Erwin Bälz und sein Wirken in Japan interessieren, als für die, die ein Porträt einer außergewöhnlichen Frau erwarten.

Zudem wirkt Ume Kajimas Werk eher wie eine unkritische Huldigung des fast schon sakrosant dargestellten Ehepaars Bälz. Viel lässt sich im Internet über das Leben von Hana Bälz zwar nicht in Erfahrung bringen, jedoch findet sich ein Artikel aus dem "Japan Magazin", der ein kritischeres Licht auf das Leben der Frau des Japanarztes wirft: Erwin Bälz legitimiert seine jahrelange Geliebte erst kurz vor seiner Rückkehr nach Deutschland, wo Hana eine Fremde bleiben wird und sich nicht mit der Art der Deutschen anfreunden kann. Groß muss ihr Heimweh nach Japan gewesen sein, da sie ein verarmtes Dasein in ihrem Vaterland dem sicherlich bequemeren Leben in Deutschland vorzog.

Bibliographische Angaben:
Kajima, Ume: „Hana Bälz – Die Frau des Japanarztes Erwin Bälz“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Yatsushiro, Sachiko), DVA, Stuttgart 1978, ISBN 3-421-01843X

Sonntag, 28. September 2014

Ume Kajima

Ume Kajima wurde 1903 als Tochter von Seiichi Kajima, dem Inhaber der Kajima Corporation, in Tokio geboren. Da Seiichi keine Söhne hatte, wurde der Diplomat Morinosuke als Ehemann für Ume von der Familie adoptiert. Der Sohn von Ume und Morinosuke leitete die Firma bis in die 1990er.

Ume Kajima veröffentlichte einige Bücher und betätigte sich als Übersetzerin. Sie war zudem Präsidentin des Kajima-Friedensforschungsinstituts und Vorstandsmitglied von Unicef Japan. 1972 kam sie einer Einladung von Bundespräsident Walter Scheel nach und bereiste Deutschland (inklusive der Erwin Bälz-Heimatstadt Bietigheim-Bissingen).

Wann und wie Ume Kajima starb, ließ sich für mich leider nicht ausfindig machen.

Interessante Links:
  • Offizielle Homepage des Kajima Institute of International Peace

Ins Deutsche übersetzte Werke und hier rezensiert:

Samstag, 27. September 2014

„Eine Braut zieht flussabwärts“ von Sawako Ariyoshi

Eine Braut darf niemals zu einem Ehemann flussaufwärts ziehen, sonst ist Unheil im Verzug. Sie muss dem natürlichen Flusslauf folgen, um Glück in der Ehe zu finden, so sagt Großmutter Toyono, die ihre Enkelin Hana Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in die Familie Matani mit dem ältesten Sohn Keisaku verheiratet.

Für die Ausbildung von Hana hat Toyono keine Kosten und Mühen gescheut. Hana hat sowohl die höhere Mädchenschule absolviert als auch eine klassische Ausbildung erfahren. Neben perfekten Fertigkeiten in Kotospiel, Kalligraphie und Teezeremonie bringt Hana mit ihrer Schönheit alles mit, was man von einer idealen Ehefrau erwarten kann. Die Heiratsangebote sind daher vielfältig. Umso schwerer fällt die Auswahl, denn nicht nur Stand, Reichtum und Charakter des potenziellen Ehemanns müssen berücksichtigt werden, sondern auch der Aberglaube, der Toyono einige Kandidaten ablehnen lässt.

Die Wahl fällt schließlich auf Keisaku, der eine große politische Karriere vor sich hat. Der Abschied von Toyono fällt Hana zwar schwer, aber als perfekte Ehefrau will sie sich ganz ihrer neuen Rolle in der Familie der Matanis einfinden.

Das erste der drei Kapitel in Sawako Ariyoshis „Eine Braut zieht flussabwärts“ widmet sich Hanas ersten Ehejahren. Im zweiten Kapitel sorgt ein Wirbelwind in Form von Hanas Tochter Fumio für Aufregung. Fumio lebt nach dem Vorbild emanzipierter Frauen und will von einer traditionellen Mädchenausbildung nichts wissen. Sie setzt sich sogar durch, in Tokio zu studieren und eine Liebesheirat einzugehen. Damit opponiert sie in jeder Hinsicht gegen ihre Mutter Hana.

Das dritte Kapitel schlägt versöhnlichere Töne an: Hanako, Tochter von Fumio und Enkelin von Hana, ist im Ausland aufgewachsen, kehrt aber während des zweiten Weltkriegs zusammen mit ihrer Familie nach Japan zurück. Zu ihrer Großmutter entwickelt sie besonders viel Zuneigung.

Sawako Ariyoshis Roman „Eine Braut zieht flussabwärts“ zeigt das japanische Rollenverständnis der Frau im Wandel. Das gelingt ihr sehr anschaulich, wenn auch enorm überspitzt. Dadurch beginnt einen die Protagonistin Hana langsam zu nerven. In jeder Situation ist sie einfach perfekt, jeder verehrt sie, jeder liebt sie (insbesondere ihr Schwager, der sie zwar recht schroff behandelt – aber eben nur, weil er in sie verliebt ist). Und auch Fumio wird einem so gar nicht sympathisch. Sie wirkt eher wie eine inkonsequente, verzogene Kratzbürste. Hanako bleibt dagegen recht blass. Trotzdem liest sich der Roman sehr flüssig und er zieht den Leser in vergangene Tage in Japan hinein.

Bibliographische Angaben:
Ariyoshi, Sawako: „Eine Braut zieht flussabwärts“ (Übersetzung: Dill, Marion), Rowohlt, Reinbek 1987, ISBN 3-499-15833-7

Mittwoch, 24. September 2014

„Japan erzählt“ herausgegeben von Margarete Donath

Einen schönen Überblick über die japanische Literatur bietet der Band „Japan erzählt“, der von Margarete Donath herausgegeben wurde – insbesondere durch das Nachwort der Herausgeberin, das erklärt, warum welche Autoren ausgewählt wurden.

Ryunosuke Akutagawas „Der Faden der Spinne“ macht den Anfang in „Japan erzählt“. Der Autor stellt ein Bindeglied zu vielen anderen in dem Band vertreten Schriftstellern her, haben diese doch schließlich den Akutagawa-Literaturpreis erhalten oder wurden dafür nominiert. Ryunosuke Akutagawas Erzählung entführt in die buddhistische Hölle. Hier quält sich der Räuber Kandata im Blutteich. Buddha im Paradies erinnert sich an eine gute Tat des Räubers und schickt ihm den sprichwörtlichen seidenen Faden. Ist dies die Rettung Kandatas oder wird der Räuber die gebotene Chance nicht nutzen?

Junichiro Tanizaki ist mit seiner ersten Erzählung „Tätowierung“ vertreten, die dem Autor zu großer Bekanntheit verholfen hatte und die schließlich auch verfilmt wurde. Sadomasochismus und eine Femme fatale sind die Themen des Debütwerks: Der Tätowiermeister Seikichi pflegt seine Kundschaft mit seiner Nadel besonders gern zu quälen und ergötzt sich an dem Leid der Gepeinigten. Sein großer Wunsch ist es, die perfekte Frau mit einer Tätowierung zu schmücken. Durch Zufall soll diese in seine Wohnung gelangen. Es zeigt sich, dass die jugendliche Maid selbst für sadistische Anwandlungen zu haben ist. Seikichis Tätowierung lässt ihr ihre wahre Bestimmung bewusst werden.

Naoya Shiga stellt in „Die Verbrechen des Han“ die Frage nach Schuld und Unschuld: Der Zirkusartist Han hat vor versammeltem Publikum seine Ehefrau und Show-Partnerin beim Messerwerfen getötet. War es ein tragischer Unfall oder hat Han absichtlich auf den Körper seiner Frau gezielt? Schließlich lagen Han und seine Gemahlin schon lange im Streit. Doch selbst Han ist sich über seine bewussten und unbewussten Handlungen nicht im Klaren.

Yasushi Inoues „Ein Brief aus der Wüste“ ist an einen längst verstorbenen Freund des Ich-Erzählers gerichtet. Der Ich-Erzähler befindet sich fernab der Zivilisation in der Wüste Takla Makan. Als ihm ein Soldat anbietet, die Post nach Japan mitzunehmen, damit sie schneller ihr Ziel erreicht, kommt er ins Grübeln: Wem soll er denn bitte bloß einen Brief schreiben? Da kommt ihm sein verstorbener Jugendfreund ins Gedächtnis, der in ihm einst mit dem Gedicht

„Hart
klirren die Kieselsteine.
Es ist Herbst.“ (S. 38)

das Interesse an der Literatur geweckt hatte.

Mit „Der Bergasket“ nimmt Kenji Nakagami den Leser mit auf eine surrealistische Pilgerreise. Der Protagonist erlegt sich die Bergwanderung als Buße auf – hat er doch oftmals seine Frau geprügelt, die sich am liebsten von ihm trennen würde. Wie in einem Fieberwahn wird er Zeuge von metaphysischen Erfahrungen, die ihm hoffentlich zur Besserung verhelfen.

Tagelang fällt schon „Regen“ in Shotaro Yasuokas Erzählung. Der Ich-Erzähler hat das Wetter, das ihm in Mark und Bein kriecht, langsam satt. Das Geld ist fast zu Ende und so kauft er sich ein Hackebeil, um einen Einbruch zu begehen. Doch was er auch anstellt, um ein Verbrechen zu begehen – so richtig mag es nicht gelingen.

Yukio Mishima erzählt in „Rosinenbrot“ von dem Nihilisten Jack, der sich auf eine Party von Gleichgesinnten begibt, die sich an einem abgeschiedenen Strand tummeln. Es geht gar ekstatisch zu: Kongas werden geschlagen, archaische Tänze werden vollführt und ein lebendes Huhn wird der Tollheit geopfert. Zwar sind sich die versammelten Herrschaften einig, dass „die Welt ohne Sinn und alle Menschen minderwertig seien“ (S. 76), dennoch wird Jack als ein „durchsichtiger Kristall“ (S. 70) beschrieben und sieht die „Heiligung im Schmerz“ (S. 79). Soviel zu Minderwertigkeit und genereller Sinnlosigkeit – und Kohärenz in der Erzählung. Der zweite Teil der Erzählung findet in Jacks Wohnung statt: Jack liest Lautréamonts „Die Gesänge des Maldoror“, macht sich dann aber auf die ganz profane Suche nach Essbaren in seinem leeren Kühlschrank. Es findet sich ein Stück von Ameisen befallenem Rosinenbrot, das er noch kaut, als sein Kumpel Gogi in Jacks Bude aufkreuzt, um sich mit seiner neuen Freundin ein Stelldichein zu geben.

Die „Erdbeeren“, die der Mann der Autovertreterin Mieko Mizawa als Snack reichen mag, führen zu einer ungewöhnlichen und intimen Unterhaltung: Mieko muss die Erdbeeren ablehnen, denn die kleinen Kernchen würden unangenehm unter ihr Gebiss rutschen. Sie kommt in Erklärungsnot, als der Mann nachfragt, warum eine so junge Frau bereits keine Zähne mehr im Unterkiefer hat. Da erzählt sie von ihrem Ehemann und einer Freundin, beides Gebissträger, und dem Wunsch, den beiden nachzueifern. Junnosuke Yoshiyukis Erzählung ist geprägt von einer subtilen Erotik von Geheimnissen, Erdbeeren und roten Lippen.

Fumiko Enchi beschreibt in „Ahorn im Winter“ eine Frau im Herbst ihrer Jahre. Yoko ist ihr Name und als TV-Schauspielerin probt sie gerade ihre Rolle als alternde Frau, deren Tochter mit einem älteren Mann liiert ist. Das Bild eines Liebespaares mit großem Altersunterschied zieht sich als großes Thema durch die Erzählung. Während die Konstellation älterer Mann und jüngere Frau gesellschaftsfähig ist, ist die umgekehrte Variante verpönt bis unmöglich. Fumiko Enchi lässt dieses Beziehungsparadox unkommentiert stehen, weswegen die Erzählung erst im Nachklang zu sacken beginnt.

Die Autorin Ineko Sata, die der proletarischen Literaturbewegung angehörte, thematisiert in „Ihr eigenes Herz“ das Phänomen des O-miais: Fumiko soll verheiratet werden, hat aber wenig Lust auf eine arrangierte Hochzeit. Sie ist zwar eine gehorsame Tochter und geht auch brav auf die Treffen mit den Ehekandidaten, ihr ist jedoch das Gefühl zuwider, wie eine Ware taxiert zu werden. Ihre jüngere Schwester hat dagegen eine Liebesheirat durchgesetzt und damit gegen die Konventionen vor der älteren Schwester geheiratet. Auch ist ihr Umgang mit dem Ehemann weit weniger als üblich von patriarchalischen Werten gekennzeichnet.

Sawako Ariyoshi entführt den Leser in die kleine Bar „Laternchen“, die sich in einer Seitenstraße der Ginza befindet. Hier geht es relativ gemütlich zu: Die Räumlichkeiten sind so klein, dass die Bar mit nur wenigen Besuchern voll wirkt und die Mama gibt den Männern gleich das Gefühl, Stammgäste zu sein. Das Erfolgsrezept des „Laternchen“ lautet:

„In einer Bar, wo die Besitzerin kein guter Mensch ist, finden sich auch keine Gäste ein, denn Trinker sind unbestechlich.“ (S. 143)

Zwei Mädchen unterstützen die Mama, doch aus tragischen Gründen ist eine der Barmädchenstellen gerade vakant. Aus Gutmütigkeit nimmt die Mama die hypersensible Shizu bei sich auf. Ob ihr der Job im Laternchen gut tut?

Minako Oba lässt ihre Ich-Erzählerin in „Blauer Fuchs“ recht unkonventionell aus dem klassischen Rollenmuster fallen: Die konfuzianische Pietät gegenüber ihrem Vater ist ihr recht schnurz. Sie lebt mit ihrem Partner zusammen, den sie Grille nennt, geht aber mit dem blauen Fuchs eine Affäre ein, der ihr vor Jahren einen Heiratsantrag gemacht hat.

Mieko Kanais Erzählung „Platonische Liebe“, die dem gleichnamigen Erzählband entnommen ist, der 1979 mit dem Izumi-Kyoka-Literaturpreis ausgezeichnet wurde, greift ein typisches Thema der Schriftstellerin auf: Das Selbstverständnis der Ich-Erzählerin, die Autorin ist, wird durch eine unbekannte Frau bedroht, die sich brieflich nach jeder Veröffentlichung der Protagonistin meldet und behauptet, die eigentliche Verfasserin der schriftstellerischen Werke zu sein. Die Ich-Erzählerin beginnt bald selbst an sich zu zweifeln. Ist sie wirklich eine Autorin oder nur eine Plagiatorin?

Auch das Sujet von Yuko Tsushimas „Heimlicher Handel“ ist ein recht typisches: Eine alleinerziehende Mutter sinniert über die Funktion von Tieren für Kinder, die ohne Vater aufwachsen. Sind sie vielleicht sogar ein Vaterersatz?

Taeko Konos „Der Eisenfisch“ erzählt die traurige Geschichte einer Kriegswitwe. Kaum verheiratet wurde ihr Ehemann eingezogen – er sollte als maritimer Kamikaze in einem bemannten Torpedo sterben. Erst Jahrzehnte später stellt sich die Witwe der Vergangenheit, als sie zum Yasukuni-Schrein aufbricht, in dem ihr Mann angeblich als Gott verehrt wird. Es werden alte Wunden aufbrechen, als sie einen der tödlichen „Eisenfische“ in Realität sehen wird.

In Masuji Ibuses „Das Soldatenlied ‚Alte Kameraden’“ reflektiert Okuyama seine Erinnerungen an den Pazifik-Krieg. In seiner Funktion in einer Transporteinheit traf er auf Oberst Nishi, der kurze Zeit später sterben sollte. Über das Lied „Alte Kameraden“ hat Okuyama damals in bitterer Notlage gesprochen – in der Jetzt-Zeit wird dieses Lied für unlautere Zwecke missbraucht.

Kenzaburo Oe zeichnet mit „Stolz der Toten“ ein Stimmungsbild der Studenten der ausgehenden 50er Jahre: Es ist ein Leben der Hoffnungslosigkeit; die Studenten funktionieren einfach. Ein erneuter Krieg wird vielleicht alles endgültig in den Abgrund reißen. Als Metapher für die Sinnlosigkeit lässt Kenzaburo Oe seinen studentischen Protagonisten eine recht grauslige Aushilfstätigkeit verrichten: Er soll helfen, konservierte Leichen von einem Aufbewahrungsbecken in ein anderes umzulagern. Doch wie es sich zeigen soll, wird diese Mühe völlig umsonst sein.

„Japan erzählt“ aus den 90ern enthält drei für diesen Band neu übersetzte Erzählungen; vier wurden aus dem gleichnamigen Buch aus den 60ern entnommen. Die restlichen zehn Erzählungen stammen aus anderen Anthologien. Daher trifft man in „Japan erzählt“ auf viele bereits bekannte Werke, wenn man sich schon etwas mit japanischer Literatur auseinandergesetzt hat. Dennoch ist die Mischung sehr gelungen, auch wenn man die eine oder andere Erzählung in diversen anderen Anthologien ebenfalls findet und gegebenenfalls schon dort gelesen hat.

Bibliographische Angaben:
Donath, Margarete (Hrsg.): „Japan erzählt“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Benl, Oscar/Berndt, Jürgen/Brasch, Heinz/Donath, Diana/Donath, Margarete/Gössmann, Hilaria/Hijiya-Kirschnereit, Irmela/Gelbrich, Ekkehard/Gelbrich, Itsuko/Schaarschmidt, Siegfried & Yoshida-Krafft, Barbara), Fischer, Frankfurt/Main 1991, ISBN 3-596-10162-X

Sonntag, 21. September 2014

Mieko Kanai

Mieko Kanai erblickte 1947 in Takasaki, in der Präfektur Gumma, das Licht der Welt. 1966 schloss sie die Oberschule ihres Geburtsorts ab. Statt einen höheren Bildungsgrad anzustreben, widmete sich Mieko Kanai dem Schreiben. 1967 wurde sie für den Osamu Dazai-Literaturpreis nominiert, wurde jedoch nur Zweitplatzierte. Ihre Erzählung wurde dennoch in einer bekannten Literaturzeitschrift publiziert. 1968 Jahr erhielt sie einen Poesie-Preis. 1970 wurde Mieko Kanai für den Akutagawa-Preis nominiert. 1979 erhielt sie den Izumi Kyoka-Literaturpreis. 1985 publizierte Mieko Kanai ihren ersten Roman.

Eines ihrer Hauptmotive ist „der imaginierte Andere“: Der Ich-Erzähler muss sich gegen eine andere Person behaupten, der den Wirklichkeitsanspruch des Erzählers bedroht.

Die Autorin und Kritikerin Mieko Kanai lebt eher zurückgezogen in Tokio.

Interessante Links:

Ins Deutsche übersetzte Erzählungen und hier rezensiert:

Freitag, 12. September 2014

„Stille Tage“ von Kenzaburo Oe

„Stille Tage“, ein zurückgezogenes Leben zusammen mit einem potenziellen Ehemann und ihrem behinderten Bruder I-Ah möchte Kenzaburo Oes Protagonistin Ma-chan am liebsten leben. Doch ihr Vater K. befindet sich gerade in einer Lebenskrise und braucht Luftveränderung. Daher bricht er zusammen mit seiner Frau in die USA auf. I-Ah bleibt in der Obhut der Studentin Ma-chan. Der jüngste Sohn O-chan lernt währenddessen fleißig für Aufnahmeprüfung an der Universität und überlässt die Hausarbeit als auch die Betreuung von I-Ah Ma-chan.

Hinter K. steckt freilich der Autor Kenzaburo Oe selbst. I-Ah ist nur ein Spitzname, Hikari heißt der Charakter offiziell und daher genauso wie Kenzaburo Oes behinderter Sohn. Aus der Ich-Perspektive lässt Kenzaburo Oe seine Tochter über die Zeit berichten, die seine Kinder allein in Japan verbringen. So begleitet Ma-chan I-Ah zur Behindertenwerkstatt, zu seinem Klavierlehrer und zum Schwimmunterricht. Gemeinsam fahren die beiden Geschwister aufs Land, um ihren Vater bei der Beerdigung seines älteren Bruders zu vertreten.

Hinzu kommen Themen, die man neben dem biographischen Schwerpunkt des behinderten Sohnes ebenfalls aus anderen Kenzaburo Oe-Romanen kennt: Auch in „Stille Tage“ wird gern über Literatur (wieder mal am Start ist der unvermeidliche Yates, aber auch Blake, Celine und Ende) philosophiert. Der Deutung des Films „Stalker“ von Tarkowski wird fast ein ganzes Kapitel gewidmet, in dem Ma-chan unter anderem Parallelen zwischen einer Filmfigur und ihrem Bruder I-Ah thematisiert. Dann ist da freilich die Krise des K., ein zurückliegender Skandal und eine daraus entstandene Feindschaft, wegen der der Roman gegen Ende hin noch etwas Fahrt aufnimmt.

Etwas nervig wirkt in „Stille Tage“ das reichlich überstrapazierte Stilmittel, Worte kursiv zu setzen. Wird über K.s Krise gesprochen, wird der Begriff kursiv gesetzt. Wird über O-chan gesprochen, wird dessen Lieblingswendung „für alle Fälle“ an jeder noch halbwegs passenden Stelle kursiv eingeschoben. Das mag vielleicht noch ein netter Einfall sein, denn K. kennzeichnet gerade die Krise, der patente O-chan ist für alle Fälle gewappnet. Aber auch bei trivialen Aussagen wird die Kursivsetzung immer wieder angewendet, wie z.B. hier:

„Dieser Badeanzug hätte – zu[.] einer Zeit, in der so etwas modern war, und am rechten Ort getragen – bestimmt hervorragend ausgesehen.“ (S. 191)

Insgesamt wirkt die Tonalität des Romans etwas unpassend für eine junge Studentin. Sie ist von einer intellektuellen Schwere, die eher zu dem krisengebeutelten K. passen würde. Dadurch kann man sich mit der Ich-Erzählerin nicht sonderlich anfreunden. I-Ah dagegen erscheint einem umso sympathischer:

„‚[…] aber Ma-chan ist doch eine beachtliche Persönlichkeit, nicht wahr, I-Ah?’
‚Ist das etwas Gutes?’ vergewisserte sich mein Bruder vorsichtig.
‚Das Beste’, antwortete Frau Shigeto, und Herr Shigeto setzte wieder seine ernsthafte Miene auf.
‚Ich finde auch, dass Ma-chan eine beachtliche Persönlichkeit ist.’, sagte I-Ah.“ (S. 94)

Aufschlussreich an „Stille Tage“ ist sicherlich, dass der Autor dem Leser offenbart, dass er dazu neigt, bei Krisen ins Ausland Reißaus zu nehmen und sich dort die Krise von der Seele zu schreiben. Auch seine Einstellung zu Religion wird beleuchtet. Insgesamt quält man sich aber etwas durch „Stille Tage“, wenn man sich nicht ausgerechnet für Kenzaburo Oes Deutung des Films „Stalker“ interessiert...

Bibliographische Angaben:
Oe, Kenzaburo: „Stille Tage“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Schlecht, Wolfgang E. & Gräfe, Ursula), Insel, Frankfurt/Main 1994, ISBN 3-458-16686-6

Montag, 8. September 2014

„Überseezungen“ von Yoko Tawada

„Überseezungen“ – bereits der Titel von Yoko Tawadas Werk ist bedeutungsschwanger: „Übersetzungen“, „Über Setzungen“, „Über Seezungen“, „Übersee Zungen“… Das Versprechen des vieldeutigen Titels wird auch eingehalten: Die Wortakrobatin Yoko Tawada präsentiert ihre Lieblingsdisziplin der Jonglage in manchmal verspielter und manchmal surrealistischer Art und Weise. Sie spielt mit Worten, dem Alphabet, Schriftzeichen, Redewendungen, Sprachen, (nationalen) Identitäten und Geschlechterrollen.

So definiert sie in „Ein chinesisches Wörterbuch“ den Begriff des Kinos als „Institut für elektrische Schatten“ oder das Adjektiv schwindelerregend als „in den Augen blühen unzählige Blumen in voller Pracht“ (S. 31).

In „Bioskoop in der Nacht“ wird die Ich-Erzählerin, die als Japanerin in Deutschland ständig gefragt wird, in welcher Sprache sie denn träume, endlich erfahren, was das denn für eine urige Sprache ist, in der sie tatsächlich träumt. Obwohl sie noch nie in Südafrika war, ist ihre Traumsprache Afrikaans. Dafür hat sie auch eine plausible Begründung. Denn wenn man in der Sprache des Landes träumt, in dem die Seele wohnt, dann antwortet die Ich-Erzählerin:

„Ich habe viele Seelen und viele Zungen.“ (S. 70)

Mit „Die Ohrenzeugin“ webt Yoko Tawada einen Klangteppich, den sie in einem Universitätsgebäude in Cambridge auslegt. Hier werden allerhand (Fremd-)Sprachen geplappert, Tastaturen klappern vor den Computern, Schuhe dagegen auf dem Gang und natürlich analysiert die Ich-Erzählerin in der Fremde ihr Verhältnis zur Muttersprache im Vergleich zum Deutschen, der später angeeigneten Sprache:

„Ich war also ins Japanische hineingeboren worden, wie man in einen Sack hineingeworfen wird. Deshalb wurde diese Sprache für mich meine äußere Haut. Die deutsche Sprache jedoch wurde von mir hinuntergeschluckt, seitdem sitzt sie in meinem Bauch.“ (S. 103)

Yoko Tawada zeichnet auch ein „Porträt einer Zunge“: In den USA freundet sie sich mit P an; einer Deutschen, die schon lange Zeit im Ausland lebt. P vermischt englische Begriffe mit deutschen; benutzt deutsche Begriffe, die in Deutschland kaum mehr Verwendung finden und weiht die Ich-Erzählerin in englischsprachige Begriffe ein. Dennoch spricht P mit Akzent, was auch sicherlich gut ist, denn:

„Der Akzent bewahrt die Erinnerungen an die Muttersprache auf. Ohne den Akzent könnte man von den Gegenwart der Fremdsprache verschluckt werden.“ (S. 135)

14 längere und kürzere Erzählungen, Kurzgeschichten und Notizen umfasst „Überseezungen“. Bei der Lektüre sollte man sich Zeit lassen und sich die Texte wahrlich auf der (Übersee-)Zunge zergehen lassen. Yoko Tawadas Werke sind einfach immer wieder ein Lesegenuss!

Bibliographische Angaben:
Tawada, Yoko: „Überseezungen“, Konkursbuch, Tübingen 2002, ISBN 3-88769-186-5

Montag, 1. September 2014

„Kyoto“ von Yasunari Kawabata

Im Garten der Familie Sata steht ein Ahornbaum, an dessen Stamm zwei Veilchenbüschel wachsen. Die junge Chieko steht jedes Jahr im Frühling erneut vor den Blumen und fragt sich, ob die Veilchen jemals zueinander finden mögen. Es zeigt sich, dass diese Sehnsucht nach dem Zusammenfinden zweier getrennter Seelen für Chieko eine besondere Bedeutung hat. Denn obwohl Chiekos Mutter darauf besteht, sie hätte Chieko als Baby entführt, weiß es Chieko besser: Sie wurde als Findelkind vor dem Geschäft der Satas aufgefunden und von dem kinderlosen Ehepaar Sata liebevollst aufgezogen. An einem Festtag in Kioto schließlich trifft Chieko auf die junge Arbeiterin Naeko, die ihr wie ein Ei dem anderen gleicht. Die hübsche Chieko wird von mehreren jungen Männern umgarnt, was zu kleinen Verwirrungen führt, als Naeko für Chieko gehalten wird.

Yasunari Kawabata bettet diese Geschichte in die Feste und Festivitäten von Kioto und dessen Umkreises ein. So geht Chieko mit ihrem Jugendfreund Shinichi, der als Kind einen Pagen auf dem Hellebardenwagen des Gion-Festes verkörpert hat, zur Blütenschau in den Heian-Schrein. Chiekos Vater Takichiro liebt das Fest des Bambusschneidens im Kurama-Tempel. Zum Gion-Fest sollen sich Chieko und Naeko treffen, als Naeko einen Bittgang für die Götter des Yasaka-Schreins ausführt. Das Daimonji-Fest im August mit dem heiligen Bon-Feuer wird Chieko dagegen leider verpassen – sie ist traurig, da sie durch Naeko erfahren hat, dass ihre leiblichen Eltern bereits verstorben sind und bleibt lieber zu Hause. Zum Epochenfest trifft sich Naeko mit einem von Chiekos Verehrern. Zum Abschluss des Kitano-Tanzfestes verschlägt es Chiekos Vater Takichiro seit längerer Zeit wieder einmal in ein Teehaus.

Das Nachwort von Jürgen Berndt verortet Yasunari Kawabatas „Kyoto“ in einer Zeiterscheinung der 60er Jahre: Japan befindet sich in einer Suche nach nationaler Identität. Man besinnt sich auf alte kulturelle Werte, was im Extrem zu neuen nationalistischen Tendenzen führen wird. Kioto als alte Hauptstadt, die nicht unter Kriegsbombardement zu leiden hatte, ist das Symbol für die Besinnung auf die alte japanische Tradition. So scheint Yasunari Kawabata mehr der alten Hauptstadt ein Denkmal setzen zu wollen, als eine Liebes- oder Familiengeschichte erzählen zu wollen.

Trotz der vielen Feste findet sich aber leider kein Zauber in der Beschreibung Kiotos im Wechsel der Jahreszeiten. Auch wirkt das Zusammentreffen von Chieko und Naeko nicht so herzlich, wie man es sich hätte vorstellen können. Dazu trägt sicherlich auch die Übersetzung bei, die Naeko Chieko in der dritten Person anreden lässt – und dies obwohl der Kurzroman in den 60er Jahren angesiedelt ist. Auch geht freilich der Kioto-Dialekt verloren, der die direkte Rede im japanischen Original prägt. Vielleicht evoziert das Werk im Japanischen und bei Japanern mit entsprechendem Hintergrundwissen wirklich die Anziehungskraft und den Liebreiz der alten Hauptstadt – im Deutschen liest sich „Kyoto“ jedoch eher etwas sperrig.

Bibliographische Angaben:
Kawabata, Yasunari: „Kyoto“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Donat, Walter/Yuzuru, Kawai), Reclam, 1974 Leipzig

Sonntag, 31. August 2014

„Stille Berge“ von Sunao Tokunaga

„August 1945… Wie auf ein Kommando hören im Bezirk Nagano die Schornsteine der zahlreichen Werke und Fabriken rund um den Suwasee zu rauchen auf. Der Krieg ist aus – Japan hat kapituliert.“ (S. 5)

Dies ist die Ausgangslage in Sunao Tokunagas „Stille Berge“. Die jungen Arbeiterinnen versuchen verzweifelt, möglichst schnell nach Hause zu kommen – es gehen Gerüchte um, dass die amerikanischen Besatzer die Frauen vergewaltigen werden. Die Großgrundbesitzer der Familie Torisawa haben Angst um die Zukunft, soll doch eine Bodenreform kommen. Unter den Kleinbauern herrschen Zwistigkeiten: Heimkehrer fordern ihr Pachtland zurück – doch wovon sollen die Familien leben, die kein Land zu bestellen haben? Die Leitung der Tokio-Electro-Company versteckt noch schnell Armeebestände auf dem Land der Familie Torisawa.

In den ersten Kapiteln stellt Sunao Tokunaga eine Flut von Personen und Problemlagen vor. Einige der Charaktere sollen in „Stille Berge“ nur einen Auftritt erhalten, andere werden bis zum Ende in Aktion treten. Daher ist der Einstieg in den Roman eher etwas anstrengend, da auch kein Personenregister enthalten ist. Doch schließlich grenzen sich die Hauptakteure auf ca. ein gutes halbes Dutzend Charaktere ein.

Da ist Araki, der Obermeister der Dreherei im Werk der Tokio-Electro-Company am Suwasee, dessen Bruder als bekennender Kommunist inhaftiert und im Gefängnis gestorben war. Araki wird sich bald für die Gründung einer Gewerkschaft einsetzen.

Ikenobe ist ein einfacher Arbeiter, der unter anderem durch Araki mit der kommunistischen Ideologie in Berührung kommt. Ren Torisawa, Tochter des Großgrundbesitzers, die während des Krieges bei der Tokio-Electro-Company arbeitet, verliebt sich in ihn – Konflikte aufgrund der unterschiedlichen Abstammung sind vorprogrammiert.

Der heimkehrende Oberleutnant Komatsu ist ein entfernter Verwandter von Ren, die er sicherlich nur allzu gern sein Eigen nennen würde. Auch er arbeitet bald bei der Tokio-Electro-Company. Gemeinsam mit Direktor Sagara steht er an vordersten Front gegen die Bestrebungen der Arbeiterschaft um eine Gewerkschaft und bessere Arbeitsbedingungen.

Auch Furukawa kehrt von der Front heim. Er ist ein Freund Ikenobes und erhält seine Anstellung bei der Tokio-Electro-Company zurück, die er vor seiner Verpflichtung bei der Armee inne hatte. Furukawa ist besonders desillusioniert: Er hat die Schrecken des Kriegs hautnah miterlebt. Seine Mutter ist unter dem Bombenhagel über Tokio verbrannt. Sein Geld versäuft er am liebsten. Noch ist er dem Kaiser treu ergeben, doch als er erkennt, dass auch der Kaiser nur ein Mensch ist, findet er einen neuen Halt im Kommunismus.

Hatsue ist Zimmerälteste im Frauenwohnheim der Tokio-Electro-Company. Auch die Frauen beginnen sich nach Kriegsende für den Kommunismus zu interessieren. Die patriarchalischen Strukturen werden in Frage gestellt und die stillen Arbeitsbienen werden aktiv und entdecken eine bisher nie gekannte Ungezwungenheit.

Sunao Tokunaga schildert in „Stille Berge“ den Kampf der Belegschaft für die Gründung einer Gewerkschaft und den Weg dreier junger Männer, bis sie sich für den Eintritt in die Kommunistische Partei entscheiden. Insbesondere letzteres wird enorm ideologisch aufgeladen und wirkt eher wie eine Konvertierung in eine Sekte. Kleines Beispiel gefällig?

„In der ganzen Welt führen die Proletarier einen unablässigen Kampf, und ihr Vortrupp ist überall die Kommunistische Partei. Könnte man doch Kommunist werden, dachte Furukawa, und Schulter an Schulter mit ihnen schreiten! Ja, dafür würde er mit Freuden sein Leben hingeben.“ (S. 391)

Sunao Tokunagas „Stille Berge“ krankt etwas daran, dass der Autor gar so viel Handlung in ein Buch presst. Allein der heimkehrende Furukwawa mit seinen Kriegstraumata, Suff-Erfahrungen und der Abwendung vom Kaisertum hätte genug Stoff für einen eigenen Roman hergegeben. Auch die verzogene, reiche Ren, die sich für den Kommunismus zu interessieren beginnt, sich verliebt, vergewaltigt wird und bisher nicht gekannte Demütigungen hinnehmen muss, hätte noch viel eingehender und gerade hinsichtlich ihres Traumas nach der Vergewaltigung besser beschrieben werden können.

Zwar ist „Stille Berge“ durchaus unter einem zeitgeschichtlichen Aspekt sehr interessant, jedoch wirkt mir das Ende dann doch zu propagandistisch-heroisch und lässt viele Fragen offen. Diesem Umstand ist es jedoch sicherlich zu verdanken, dass das Werk überhaupt ins Deutsche übersetzt und in den 50er Jahren im ostdeutschen Berlin veröffentlicht wurde.

Bibliographischen Angaben:
Tokunaga, Sunao: „Stille Berge“, Volk und Welt, Berlin 1954

Samstag, 9. August 2014

„Shirobamba“ von Yasushi Inoue

Als „Shirobamba“ bezeichnen die Dorfkinder von Yugashima die Insekten, die in der beginnenden Dämmerung weiß wirken und dann immer bläulicher erscheinen. Tendiert die Farbe der Shirobamba zum Blau, ist es höchste Zeit für die Kinder, nach Hause zum Abendessen zu gehen. Kosaku ist meist der letzte, der heim zu seiner Oma Onui aufbricht.

Kosaku ist der Augapfel von Oma Onui und lebt wie ein kleiner Prinz. Doch eigentlich ist er mit Oma Onui noch nicht einmal blutsverwandt. Sie ist die Nebenfrau von Kosakus verstorbenen Urgroßvater. Und der Urgroßvater hatte wiederum Kosakus Großvater adoptiert. Kosaku wächst mit seiner gleichaltrigen Tante auf; auch die weiteren Tanten und Onkel betrachtet er eher wie seine Geschwister. So sind in der Familie die offiziellen Blutsbande schon fast vernachlässigbar. Zwischen dem Haupthaus und Oma Onui, die zusammen mit Kosaku im Lagerhaus lebt, gärt es seit jeher - und insbesondere als Oma Onui Kosaku für sich vereinnahmt hat, ist die Situation gespannt.

Yasushi Inoue erzählt mit „Shirobamba“ seine eigene Kindheitsgeschichte, die in den Jahren 1915/1916 angesiedelt ist. Aus der kindlichen Perspektive des Kosaku werden die Beziehungen von Oma Onui und der Familie im Oberhaus beleuchtet, die großen und kleinen Probleme der Kinder illustriert und die Feste, die bei den Kindern für Aufregung sorgen, beschrieben. Kosaku erzählt mit seiner naiven Logik, die dem Leser auf ihre eigene Weise schlüssig erscheint, aber doch oft eine gewisse Komik mittransportiert. So fragt der kleine Kosaku die Urgroßmutter, die mal wieder über ihre alte Rivalin Oma Onui schimpft, allen Ernstes:

„Oma, du bist doch schon so alt, stirbst du da nicht mal? Wann stirbst du denn?“ (S. 12)

Dass jemand in dem hohen Alter der Urgroßmutter, runzlig und gebückt, noch immer am Leben ist, ist doch auch wirklich erstaunlich… Nichtsdestotrotz wird die Tonalität in „Shirobamba“ nie verletzend, selbst wenn der Finger in die Wunde gelegt wird. Was die Urgroßmutter Shina betrifft:

„Shina [...] hatte, seit sie als Braut ins Haus gekommen war, kein einziges Mal die Küche betreten. Bestenfalls konnte man sie als weltfremde, sanfte Dame bezeichnen, genauso gut hätte man aber auch sagen können, dass sie überhaupt nichts taugte.“ (S. 13)

Doch der verzogene Lausebengel hat es nicht nur einfach: Mit Oma Onui macht er sich auf einen Besuch bei seinen Eltern und fühlt sich erst einmal wie ein Fremder. Ohnehin kommt er sich in den größeren Städten wie ein Dorftrampel vor. Und da ist auch noch seine Tante Sakiko, der Kosaku zärtlich zugetan ist. Doch in deren Leben tritt bald ein Mann, auf den Kosaku natürlich eifersüchtig ist.

Mit „Shirobamba“ reiht Yasushi Inoue kleine, herzerfrischende Kindheitsepisoden aneinander. Ins Deutsche übersetzt wurde jedoch nur der erste Teil von Yasushi Inoues Werk. Bleibt die Hoffnung, dass der zweite irgendwann doch noch übersetzt wird.

Bibliographische Angaben:
Inoue, Yasushi: „Shirobamba“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Bollinger, Richmod), Suhrkamp, Frankfurt am Main 1995, ISBN 3-518-40730-9

Freitag, 8. August 2014

„Schnee“ von Taeko Kono

Hayako geht es gar nicht gut, wenn Schnee zu fallen beginnt. Es ist dasselbe Leiden, dass auch ihre Mutter hatte. Ein starker Schmerz strahlt von der Schläfe aus, weswegen Hayako Schneetage hasst und nichts mehr befürchtet, als dass ihr Freund in eine schneereiche Gegend versetzt wird. Obwohl sich ihre Bekannten und Verwandten wundern, hat Hayako ihren Partner immer noch nicht geheiratet.

Die Handlung setzt ein, als Hayakos Mutter gerade erst gestorben ist. Zwei mystisch anmutende Gegebenheiten hatten den Abschied von Mutter und Tochter begleitet.

In Rückblenden erfährt der Leser aber auch von Hayakos Kindheit: Wie sie von der Mutter für ihre Begeisterung für Schnee unglaublich ausgescholten wurde. Wie sie als Schülerin immer schlechter abgeschnitten hat als ihre Mitschülerinnen. Wie sie immer kleiner war als die Gleichaltrigen. Nach und nach enthüllt sich, wie alle diese Dinge zusammenpassen und ein Bild ergeben, was unglaublich ist und dennoch alle Ungereimtheiten in Hayakos Lebenslauf erklärt.

Wie man es von Taeko Kono gewohnt ist, sind die Charaktere und die Handlung der Erzählung „Schnee“ etwas unheimlich und verschroben. Etwas eigentümlich mutet jedoch die Übersetzung an, die ständig zwischen Präsens und Präteritum wechselt. Was im Japanischen üblich ist, liest sich im Deutschen sperrig und unausgegoren.

Bibliographische Angaben:
Kono, Taeko: „Schnee“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Fukuzawa, Hiroomi & Herzberg, Ida), Galrev Verlag, Berlin 1987, ISBN 3-925230-03-3

Donnerstag, 7. August 2014

„Regenschauer“ von Junnosuke Yoshiyuki

Hideo Yamamura ist Junnosuke Yoshiyukis Protagonist (und Alter Ego) in der Erzählung „Regenschauer“. Yamamura besucht in den 50er Jahren regelmäßig das Freudenviertel von Tokio, um sich die „Hygiene der Seele, deren Ausgeglichenheit“ (S. 8) zu erhalten. Ansonsten hat der Salaryman keine ausgeprägten Hobbies oder Interessen.

Doch die Prostituierte Michiko scheint es ihm besonders angetan zu haben und dies zerrüttet langsam auch den Seelenzustand des Protagonisten. Er versetzt ein Familienerbstück und verwendet zudem sein gesamtes Gehalt darauf, sich mit Michiko zu treffen.

Als sein Kollege Goro, mit dem er sich gerne in den Bordellen herumgetrieben hat, ein Mädchen aus gutem Hause heiratet, wird Hideo besonders mit seinen eigenen Gefühlen konfrontiert. Was bindet ihn an Michiko? Ist er wirklich verliebt in sie? Kann es eine Zukunft für einen Salary Man und eine Prostituierte geben? In Hideo gärt zudem die Eifersucht…

Darüber hinaus erlaubt die mit dem Akutagawa-Literaturpreis ausgezeichnete Erzählung „Regenschauer“ einen Blick in das Rotlichtviertel Tokios der 50er Jahre. Dem Autor und Lebemann Junnosuke Yoshiyuki nimmt man als Leser ab, dass mit „Regenschauer“ eine authentische Beschreibung des Milieus entstanden ist.

Jiro Kawamura kontrastiert in einem kurzen Nachwort die Werke von Yukio Mishima und Junnosuke Yoshiyuki. Beide gelten ihm als Meister der Kurzgeschichte, doch während Mishima eine verzerrte, idealisierte Ordnung der Dinge darzustellen versucht, erscheint im Yoshiyuki sensibler für das Chaos der Moderne, das in dessen Erzählungen vermittelt wird.

In der Tat lebt die Erzählung von starken Bildern, die den Seelenzustand des Protagonisten beschreiben und als Ausblick auf die kommenden Geschehnisse gelesen werden können. Daher ist es auch mehr als bedauerlich, dass bisher nur diese erste Erzählung Junnosuke Yoshiyukis übersetzt worden ist. „Regenschauer“ macht definitiv Lust auf mehr Lesestoff des Autors.

Bibliographische Angaben:
Yoshiyuki, Junnosuke: „Regenschauer“ (Übersetzung aus dem Japanischen: von Collani, Claudia & Elart/Ebert, Jorinde/Furusawa, Yuko/Hirao, Kozo), Dogakusha Verlag, Tokio 1982