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Samstag, 3. August 2013

„Paradies im Meer der Qualen“ von Michiko Ishimure

Zuerst spielen die Katzen in Minamata und den umliegenden Fischerdörfern verrückt: Sie gebärden sich wie wild, rennen sich an Mauern die Köpfe ein oder ertrinken im Meer. Doch nicht sehr viel später fühlen sich auch die Menschen seltsam: Die Hände werden taub, das Laufen und Sprechen fällt immer schwerer. Es folgen Erblindungen und Krämpfe. Manche armen Seelen können bald nur noch wie Hunde jaulen und sterben elendiglich.

Was wie aus einem Endzeitfilmchen entlehnt scheint, basiert leider auf realenen Geschehnissen. Denn als die Firma Chisso in den 50er Jahren quecksilberhaltige Abwässer ins Meer leitete, gelangte das Quecksilber in die Nahrungskette. Verseuchter Fisch ließ erst die Katzen sterben. Viele Fischer und deren Familienangehörigen starben, unzählige erlitten irreversible Schäden am zerebralen Nervensystem. Autopsien offenbarten Gehirne, die wie ein Schweizer Käse durchlöchert waren.

Michiko Ishimure, die in der Gegend von Minamata wohnte, hält in „Paradies im Meer der Qualen“ die tragischen Ereignisse fest. Denn nicht nur, dass die Familienmitglieder der Fischer krank werden, auch die Fische in der See werden immer weniger. So bleibt das Einkommen aus, das gerade so nötig wäre, um die Kranken zu versorgen. Da die Katzen tot sind, fallen Ratten über die Netze und Gerätschaften der Fischer her. Bald bleibt nichts weiter übrig, als auch noch das Arbeitsgerät zu verkaufen, um über die Runden zu kommen. Und die Firma Chisso zieht sich möglichst aus der Affäre. Kompensationszahlungen müssen hart erkämpft werden, ein Schuldeingeständnis wird erst Jahre später zugestanden.

Michiko Ishimure vereint in „Paradies im Meer der Qualen“ offizielle Dokumente und fiktive Beschreibungen von Betroffenen, die als beispielhaft gelten können. Bei knapp 1.500 offiziell anerkannten Todesopfern (Stand 1994) lassen sich die vielen schrecklichen Einzelschicksale nur erahnen. Hinzu kommen die zahllosen Kranken, die mit irreversiblen Schäden leben müssen und noch Jahrzehnte später um ihre Anerkennung als Minamata-Geschädigte kämpfen müssen.

Vor Michiko Ishimure kann man nur den Hut ziehen. Denn obwohl sie von diversen Seiten gedrängt wurde, ihr journalistisches Engagement für die Minamata-Kranken einzustellen, publizierte sie mit „Paradies im Meer der Qualen“ eine Anklage, die sich gegen einen ungezügelten Kapitalismus richtet, der ohne Rücksicht auf Verluste die Natur schädigt. Geradezu erpresserisch erscheint die Firma Chisso: Eine latente Drohung, den Standort in Minamata zu schließen, lässt viele Menschen verstummen, würde dies doch den Wegfall des Hauptarbeitgebers der Region bedeuten.

Trotzdem ist „Paradies im Meer der Qualen“ nicht mit enormer Bitterkeit geschrieben, schimmert doch überall die Sehnsucht der Betroffenen nach dem Meer, nach einem ursprünglichen Leben durch.

Bibliographische Angaben:
Ishimure, Michiko: „Paradies im Meer der Qualen“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Gräfe, Ursula), Insel Verlag, Frankfurt/Main & Leipzig 1995, ISBN 3-458-16725-0

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