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Dienstag, 24. April 2012

„3/11 – Tagebuch nach Fukushima“ von Yuko Ichimura und Tim Rittmann

„3/11 – Tagebuch nach Fukushima“ sind Yuko Ichimuras Aufzeichnungen über ihre Erlebnisse am und nach dem 11. März 2011, die auf der Homepage des SZ Magazins erschienen und nun liebevoll gestaltetet in Buchform erhältlich sind.

Yuko Ichimura erlebt das erste Beben in der Arbeit; sie und ihre Kollegen fliehen aus dem Bürogebäude auf die Straße. Da die U-Bahnen nicht fahren und kein Taxi aufzutreiben ist, geht sie zu Fuß in die Innenstadt, um ihren Lebensgefährten Yudai an dessen Arbeitsplatz aufzusuchen.

Die folgende Zeit steht ganz im Zeichen des Erdbebens: Ein in der Wohnung aufgehängter Kleiderbügel dient als Nachbebenwarnung, der Notfallalarm geht immer wieder los, Twitter wird zum unverzichtbaren Kommunikationsmittel und Strom soll gespart werden, da das Atomkraftwerk von Fukushima vom Netz geht. Bis zum Hochsommer ändert sich nichts am Engpass mit Stromversorgung: Da werden dann auch schon mal die alten Tricks aus der Edo-Zeit aus der (Kla-)Mottenkiste gepackt, wenn man die Klimaanlage nicht anschalten darf.

In der ersten Zeit nach dem großen Schock verfolgen die Menschen die Strategie des „fukinshin“, des etwas unangemessenen Verhaltens. Denn nachdem die Menschen zunächst ängstlich zu Hause saßen, müssen sie – Katastrophe hin, Katastrophe her – raus, um sich Mut machen zu machen, dass das Leben weitergehen wird.

Als das Ausmaß der Schäden am Atomkraftwerk Fukushima immer evidenter wird, wird nukleare Verstrahlung zum Thema: Bei Regen will man lieber nicht das Haus verlassen, Bohnen aus dem letzten Jahr werden gehortet und Gurken aus dem Gebiet Fukushima liegen unverkäuflich im Supermarktregal. Als Yuko aus beruflichen Gründen weit entfernt von Tokio weilt, ist es ein Highlight, auf dem Markt bedenkenlos Lebensmittel einkaufen zu können.

Die Menschen beginnen, ihr Leben auf den Prüfstand zu stellen: Welche Aspekte sind ihnen wichtig, welche Dinge werden plötzlich unsinnig? Auch auf Partnerschaften hat dies seine Auswirkungen: Manche Partner rücken näher zusammen; manche Pärchen merken, dass man genauso gut ohne die bessere Hälfte leben kann.

Yuko Ichimura illustriert jeden Tagebucheintrag liebevoll mit einem Comic, der das Wesentliche bereits zusammenfasst und auch gerne mit Ironie spielt. Die Episodenhaftigkeit der einzelnen Kapitel ist charakteristisch und öffnet kleine Fenster in den Alltag während der Katastrophe. Trotz aller Tragik versprüht „3/11 – Tagebuch nach Fukushima“ Optimismus und Solidarität. Denn Yuko und ihre Freundinnen engagieren sich für die Erdbebenopfer und wirken wie aus einem Kokon geschlüpft.

Leider habe ich „3/11 – Tagebuch nach Fukushima“ viel zu schnell ausgelesen gehabt; ich hätte gerne noch mehr Tagebucheinträge vertragen. Doch Gott sei Dank ist das Buch von der Sorte, die gut und gerne in einem halben Jahr nochmals zum Schmökern hervorgeholt werden kann.

Montag, 23. April 2012

Yuko Ichimura

Die 35-jährige Yuko Ichimura wuchs in Yokohama auf. 1995 schloss sie die Shoei Mädchenoberschule ab und studierte in London bis zum Jahr 2000 bildende Künste. Im Anschluss blieb sie zum Arbeiten in London. Nach 11-jähriger Abwesenheit kehrte sie schließlich nach Japan zurück. Derzeit arbeitet sie als Illustratorin und Regisseurin für Werbefilme.

In Zusammenarbeit mit dem freien Journalist Tim Rittmann erschien nach den katastrophalen Erdbeben und Tsunamis des Jahres 2011 regelmäßig auf der Homepage des SZ Magazins ihr Online-Tagebuch, das zwischenzeitlich als Buch veröffentlicht wurde.

Interessante Links:
  • „3/11 – Tagebuch nach Fukushima“ auf Facebook

Ins Deutsche übersetzte Werke und hier rezensiert:

Sonntag, 22. April 2012

„Die Frau in den Dünen“ von Kobo Abe

Ein passionierter Insektensammler verlässt die Stadt Richtung Meer. Dort hofft er, eine bisher unentdeckte Insektenart ausfindig zu machen. Er als Entdecker würde das Insekt benennen dürfen und damit unsterblich werden.

Doch statt selbst einen legendären Fang zu machen, geht er den Bewohnern des strandangrenzenden Dorfes in die Falle: Da er die letzte Möglichkeit verpasst hat, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurück zu fahren, beschließt der Mann, im Dorf zu übernachten. Die Bewohner zeigen sich zuvorkommend und führen in zu einem tiefen Sandloch, auf dessen Grund sich ein von einer allein stehenden Frau bewohntes Haus befindet. Mit einer Strickleiter erreicht der Mann den Grund des Sandlochs und verbringt eine ungewöhnliche Nacht in dem vermoderten Haus, das die Frau vom Sand freischaufelt, bevor sie zu Bett geht. Als er am nächsten Morgen zum Insektensammeln aufbrechen will, entdeckt er entsetzt: Die Strickleiter ist verschwunden und er sitzt auf dem Grund des Sandlochs fest. Fortan wird von ihm erwartet, zusammen mit der Frau jede Nacht Sand zu schaufeln. Denn das Haus im Sandloch wirkt wie eine Bastion gegen den Sand, der sonst weiter vor dringen und das ganze Dorf zerstören könnte.

Der Protagonist findet sich in einer archaischen Gemeinschaft wieder, in der sich der Einzelne dem Nutzen aller beugen muss. Und so sitzt selbst die Frau wie eine Gefangene im Sandloch fest. Sie kämpfen mit den widrigsten Umständen in dem feuchten, heißen Sandloch: Die Haut ist wund vom Sand, die Augen verkleben und die Hitze ist unerträglich. Kein Wunder, dass der Mann plant, möglichst bald zu fliehen...

„Die Frau in den Dünen“ von Kobo Abe verbreitet eine verstörende Stimmung: Das Leben ist dem Wesen des Sandes völlig unterworfen. Abseits aller technischen Errungenschaften besteht das Leben des Mannes fortan aus Sandschaufeln und Entbehrung.

Doch in dieser unerbittlichen Szenerie durchwandelt der Mann in Gedanken sein Leben vor der Gefangennahme: Klammern sich die Menschen nicht an die Unverbindlichkeit ihrer Lebensumstände, da sie immer glauben, eine Rückfahrkarte in der Tasche zu haben? Was ist nun mit ihm, dem hohe Sandmauern eine Rückfahrt verweigern? Kann man sein Glück auch ohne die Freiheit, von heute auf morgen verschwinden zu können, finden?

Donnerstag, 19. April 2012

„Frauen in Japan“ herausgegeben von Barbara Yoshida-Krafft

„Frauen in Japan“ lässt zehn japanische Schriftstellerinnen zu Wort kommen, die mit ihren Erzählungen die (sich wandelnde) Frauenrolle in der japanischen Gesellschaft illustrieren.

Taeko Konos Erzählung „Knochenfleisch“ (auch in dem Volk und Welt-Band „Das verhasste Alter“ als „Fleischbröckchen“ erschienen) ist die skurrile Geschichte einer Trennung. Nachdem der Mann die Frau verlassen hat, verliert sie ihren Geschmackssinn. Während der Beziehung hatte sie noch so gerne mit ihrem damaligen Partner geschlemmt. Am liebsten würde sie nun alles verbrennen, das an den Mann erinnert: Seine zurückgelassenen Besitztümer, ihre Wohnung, ja gar sich selbst.

Fumiko Enchi beschreibt in „Das Ehepaar“ die Beziehung des in die Jahre gekommenen Ehepaars Tomimori: Der Ehemann Kaichi ist ein Relikt aus der Meiji-Zeit und hält an dem steifen und lieblos wirkenden Verhalten gegenüber seiner Ehefrau Ikuyo fest – selbst als sie krank wird.

Rie Yoshiyukis „Im Brunnen die Sterne“ zeichnet die Lebenswege zweier ungleicher Zwillingsschwestern: Die Jüngere heiratet aus Liebe und führt ein selbstständiges Leben. Die ältere Schwester Shoko lernt ihren Ehemann über ein Omiai kennen. Die Schwiegermutter zieht bald zu dem Ehepaar und ist die neue Herrin des Hauses. Shoko wird kurz gehalten, bevormundet und bald nicht mehr dieselbe…

Auch Tomoko und Takako aus Taeko Tomiokas „Heirat" sind Schwestern, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Tomoko ist eine alte Jungfer, hat im Alter jedoch ein Omiai absolviert und sich entschlossen, doch noch zu heiraten. Takako hatte sich mit einem sehr viel jüngeren Mann verheiratet, der sie jedoch bald wieder verlassen hatte. Dennoch ist sie auf dem Papier immer noch verheiratet. Bricht nun die jahrzehntelange Allianz der Schwestern wegen einem Mann, den Tomoko nur über ein Omiai kennt, auseinander?

Ineko Sata thematisiert in „Ihr eigenes Herz“ ebenfalls ein Omiai. Doch Fumiko hat eigentlich so gar keine Lust auf eine arrangierte Ehe – sie fühlt sich wie eine Ware, die es beim Omiai besonders gut anzupreisen gilt. Auch die Eltern taktieren, ob nicht ein solventerer Ehemann für Fumiko aufzutreiben ist und versuchen, sie an einen anderen zu verkuppeln. Dagegen hat Fumikos Schwester ihren Mann im Studium kennen gelernt und hält nichts von unterwürfigem Verhalten ihrem Partner gegenüber.

Chiyo Unos „Glück“ enthält wie ihr autobiografischer Roman „Die Geschichte einer gewissen Frau“ einige Anhaltspunkte, dass es sich bei der Protagonistin Kazue um die die Autorin selbst handelt. Kazue ist eine glückliche Frau, vor allem deswegen, weil sie sich selbst dafür hält und nicht, weil ihr allzu viel Glück widerfährt. Sie lebt ein unkonventionelles, sogar sprunghaftes Leben, hat viele Partner und hat einen Hang dazu, sich – ebenso wie die Autorin – gerne bei größeren Veränderungen ein neues Haus zu bauen.

Fumiko Enchi ist mit „Ahorn im Winter“ gleich ein zweites Mal in „Frauen in Japan“ vertreten: Die Protagonistin Yoko ist eine Schauspielerin um die 50 Jahre. Eigentlich wollte sie den viel jüngeren Tachibana mit ihrer Nichte verkuppeln – doch wie’s der Teufel will verliebt sie sich selbst in ihn. Ihr etwa gleichaltriger Schauspielerkollege Fujiki hat’s als Mann da schon weit einfacher mit seiner neuen Flamme, die gerade einmal Mitte 20 ist.

„In Versuchung“ ist Takako Takahashis Ich-Erzählerin. Während diese im Shinkansen sitzt, lässt sie ihren Erinnerungen freien Lauf und reflektiert über diverse Männerbekanntschaften, die doch alle auf das Bild „jenes Mannes“ einzahlen.

Die drei Teile von Yuko Tsushimas „Unsere Väter“ werden je von den drei Schwestern einer vaterlosen Familie erzählt. Nach dem Tod der Großmutter ziehen sie zusammen mit der Mutter aus dem altmodischen Haus aus, um in einer Reihenhaussiedlung ihr neues Zuhause zu finden. Doch richtig glücklich werden sie dort nicht. Die Mutter wendet sich dem Christentum – und dem Pater näher zu.

„Kiriko“ trifft in der gleichnamigen Erzählung von Minako Oba auf dem Heiweg den älteren Nachbarn Keiichiro. Es entspannt sich dabei ein Gespräch über das Patriarchat, unterschiedliche Beziehungen zwischen Ehepartnern und Eifersucht.

„Tanzender Ruß“ von Sawako Ariyoshi skizziert ein auf den Kopf gestelltes Familienleben in den 50er Jahren. Der Weltkrieg hat den Vater in seiner beruflichen Karriere so weit zurückgeworfen, dass er den Unterhalt für die vierköpfige Familie nicht mehr allein bestreiten kann. Die Tochter, die bereits 30 Jahre und unverheiratet ist, verdient mit ihrer Arbeit um einiges mehr als der Vater und bestreitet mit ihrem Gehalt einen Löwenanteil der anfallenden Kosten. Deswegen nimmt sie es sich auch heraus, Männerbekanntschaften nachts mit nach Hause zu bringen; meist in betrunkenem Zustand. Der Vater missbilligt dieses Verhalten in höchstem Maße, doch die Tochter begegnet ihm nur mit Verachtung.

„Frauen in Japan“ liefert ein breites Spektrum unterschiedlicher Frauenschicksale innerhalb der sich wandelnden japanischen Gesellschaft. Die Erzählungen variieren sehr stark im Vermögen, den Leser in die Geschichte hineinzuziehen. Manche wirken mehr wie Assoziationsketten, andere haben Tagebuchcharakter und wiederum andere verfügen über einen kleinen, aber feinen Spannungsbogen.

Ergänzt werden die Erzählungen einerseits durch das sehr lesenswerte Vorwort von Barbara Yoshida-Krafft über die Geschichte der weiblichen Autorinnen in Japan von der Hofdamenliteratur bis hin zur Moderne. Zudem finden sich im Anhang interessante Biografien der Autorinnen auf je ein bis drei Seiten. „Frauen in Japan" ist übrigens eine Lizenzausgabe des Bandes „Das elfte Haus" vom Iudicium-Verlag mit selben Inhalt.

Mittwoch, 18. April 2012

Ineko Sata

Ineko Sata wurde 1904 in Nagasaki geboren. Ihre Eltern hatten sich als Schüler kennen gelernt: Ihre Mutter war bei ihrer Geburt erst 14, ihr Vater 18. Die Mutter starb bereits im Jahr 1911 an Tuberkulose. Unter ärmlichsten Bedingungen wuchs sie bei Vater und Großmutter auf. Nach einem Umzug nach Tokio musste sie in der 5. Klasse die Schule abbrechen, da sie mit einer Anstellung in einer Bonbonfabrik ihren Beitrag zum Einkommen der Familie beisteuern musste. Es folgten Tätigkeiten als Restauranthilfskraft, Fabrikarbeiterin und Verkäuferin im Kaufhaus Maruzen. 1924 heiratete Ineko Sata einen gutbürgerlichen Heiratskandidaten, den ihr ein Vorgesetzter vorgeschlagen hatte. Nach Selbstmordversuchen trennte sich Ineko Sata von ihrem Ehemann und verließ die Wege des konventionellen Lebensstils. Sie strebte ein selbst bestimmtes Leben an. Durch ihre Arbeit in einem Café lernte sie linke Literaten wie Shigeharu Nakano und Tsurujiro Kubokawa kennen. Letzteren heiratete Ineko Sata im Jahr 1926.

Als Autodidaktin hatte sich Ineko Sata auch nach ihrem Schulabbruch dem Schreiben gewidmet. In einer Zeitschrift der proletarischen Literaturbewegung veröffentlichte sie nun Gedichte und Erzählungen. Sie trat in diverse linke Kulturbewegungen ein und 1932 in die japanische Kommunistische Partei. In den 30er Jahren wurden sowohl ihr Ehemann als auch sie selbst wegen ihrer politischen Aktivitäten verhaftet. Während des zweiten Weltkriegs reiste sie mit weiteren Schriftstellerinnen zur Truppenbetreuung nach Korea, in die Mandschurei, nach China, Singapur und Sumatra. Von ihrem Ehemann hatte sie sich zwischenzeitlich entfremdet und ließ sich 1945 scheiden. Sie trat 1946 erneut in die KP ein, wurde 1951 ausgeschlossen, 1955 wieder aufgenommen und 1964 zum wiederholten Male ausgeschlossen.

Ineko Satas literarisches Werk umfasst 18 Bände. Sie erhielt unter anderem den Frauenliteratur-, den Noma-, den Kawabata- und den Yomiuri-Preis. 1998 starb die Autorin, die sich bis ins hohe Alter sozial engagierte.

Interessante Links:

Ins Deutsche übersetzte Romane/Erählungen und hier rezensiert:

    Dienstag, 17. April 2012

    „Brokatrausch“ von Hisako Matsubara

    Hisako Matsubaras „Brokatrausch“ ist in den 10er/20er Jahren des vorigen Jahrhunderts angesiedelt und setzt ein, als der Vater der Familie Hayato beschließt, seinen Adoptiv- und Schwiegersohn Nagayuki in die USA zu schicken. Nagayuki wurde in Ermangelung eines eigenen Sohnes adoptiert und mit der Tochter der Hauses Tomiko verheiratet. Nach Abschluss seines Jura-Studiums als Jahrgangsbester an einer renommierten Universität von Tokio stehen Nagayuki alle japanischen Unternehmen offen, die ihn nach Einarbeitung gerne ebenfalls in die USA schicken würden. Doch der Hayato-Vater ist ein Patriarch des alten Stils: Er stammt aus einer alten Samurai-Familie und fällt alle Entscheidungen alleine, duldet keinen Widerspruch. So bricht Nagayuki allein und ohne die Unterstützung durch eine japanische Firma in die USA auf, weil dort angeblich das Geld auf der Straße liegt. Der Hayato-Vater erwartet, dass er innerhalb eines Jahres schwerreich und in Brokat gekleidet zurückkehrt. Seine schwangere Tochter Tomiko, so bestimmt der Hayato-Vater, hat in Japan zu bleiben.

    Doch alles entwickelt sich anders als geplant: Der Hayato-Vater verspekuliert sich und verliert fast sein gesamtes Vermögen. Wo bleiben in dieser Notlage nur die vielen Dollars, die Nagayuki bestimmt schon längst verdient haben muss...

    Im Vergleich zu Hisako Matsubaras „Abendkranich“ weiß „Brokatrausch“ nicht so recht mitzureißen. Das mag auch vor allem an den Protagonisten liegen: Ein selbstgerechter, aber in der modernisierten Gesellschaft weltfremder Vater, ein allzu höriger Schwiegersohn und eine Tochter, die wie gelähmt als Zuschauerin wirkt. Insbesondere die Handlungen des Vaters machen beim Lesen fast schon ein bisschen aggressiv: Da verjubelt er mal so eben seinen ganzen Besitz und glaubt immer noch, immerzu Recht zu haben…

    „Brokatrausch“ ist sicherlich für ein westliches Publikum geschrieben: Sehr detailliert wird auf einzelne Bräuche und Alltagshandlungen eingegangen, die einem in unseren Breitengraden gemeinhin unbekannt sind, was den Roman dennoch wertvoll macht.

    Montag, 16. April 2012

    „Das klatschende Äffchen“ von Kyotaro Nishimura

    „Das klatschende Äffchen“ enthält die fünf Kriminalerzählungen „Die Insel Minami-Kamui“, „Sommer der Verwirrung“, „Das klatschende Äffchen“, „Das Kartenhaus“ und „Der Kommissar“ des Autors Kyotaro Nishimura.

    Auf „Die Insel Minami-Kamui“ lässt sich ein junger Arzt versetzen. Die Bewohner der Insel hängen noch einem recht archaischen Glauben an. Als eine Seuche sich auszubreiten beginnt, werden die Götter konsultiert – und das Unglück nimmt seinen weiteren Lauf.

    Ein Jugendlicher erlebt einen „Sommer der Verwirrung“: Sein verstorbener Vater hatte kurz vor seinem Tod eine attraktive, junge Frau geheiratet. Die neue Mutter und junge Witwe wird in diesem Sommer von einem unangenehmen Kerl belagert. Der Teenager glaubt nun, dass ihn dieser mit Gewalt aus dem Weg räumen will. Ist dies nichts weiter als Paranoia oder steckt doch mehr dahinter?

    In „Das klatschende Äffchen“ recherchiert ein Reporter über den Selbstmord eines jungen Arbeiters, der vom Land nach Tokio gekommen war. Drei kurz vor dem Tod verschickte Briefe könnten Aufschluss über die Motive des Selbstmords oder gar Hinweise auf einen Mord geben.

    „Das Kartenhaus“ erzählt von dem Mord an einer Mitarbeiterin eines Saunasalons. Kommissar Taguchi macht zwei Tatverdächtige aus: Den Verlobten der jungen Frau und einen Dichter, mit dem sie befreundet war. Der Kommissar lässt nicht locker und bringt damit ein Kartenhaus zum Einsturz.

    „Der Kommissar“ Tasaka verbeißt sich in den Fall, der sich um den Sohn einer Skandal-Nudel aus der Filmbranche rankt: Der 6-Jährige soll laut seiner Mutter mit Rattengift Selbstmord begangen haben. Doch wer hat schon jemals von dem Selbstmord eines 6-Jährigen gehört? Tasaka will von einem Unfall nichts wissen – er glaubt, die Mutter habe ihren Sohn getötet. Sein Kollege Ono wiederum recherchiert in eine ganz andere Richtung: Warum mag Tasaka nur so besessen von diesem Fall sein?

    Im Vorwort von „Das klatschende Äffchen“ gibt der Autor Kyotaro Nishimura an, dass die vorliegenden Kriminalgeschichten mehr als Stilübungen gedacht waren, da er nach der erneuten Lektüre des Textes, für den er den Edogawa-Rampo-Preis erhalten hatte, seinen Stil als noch zu holprig erachtete. Diese Übungen sind ihm hervorragend gelungen: Aus unterschiedlichen Erzählperspektiven (z.B. aus der Sicht des Übeltäters, aus der Sicht des Opfers, aber auch aus der Sicht von klassischen Kommissaren) schildert Kyotaro Nishimura die Kriminalfälle, die sich in überraschende Richtungen entwickeln. Auch gesellschaftliche Problemlagen werden skizziert (beispielsweise Vereinsamung in der Großstadt) und geben den Erzählungen zusätzliche Tiefe.

    Sonntag, 15. April 2012

    Kyotaro Nishimura

    Kyotaro Nishimura (bürgerlich: Kihachiro Yajima/geboren am 06.09.1930) gilt zusammen mit Seicho Matsumoto als einer der bekanntesten japanischen Krimiautoren. 1960 gab er seine Anstellung als Beamter auf, um sich dem Schreiben zu widmen. Er hielt sich mit diversen Nebenjobs über Wasser, bis er schließlich 1963 den Förderpreis des Verlags Bungei Shunju und 1965 den Edogawa-Rampo-Preis erhielt. Um seinen Stil zu verfeinern, trat er in einen Literaturförderkreis ein. Denn für Kyotaro Nishimura sollte sich der ideale Kriminalroman mit literarischen Finesse von kriminalistischen Schundromanen abheben und Spannung durch thematische Tiefe erzeugen.

    An die 500 Titel zählt das Werk von Kyotaro Nishimura derzeit. In Japan am bekanntesten dürfte die Train-Mystery-Serie sein. Seine Kriminalgeschichten lieferten zudem die Vorlage zu Computerspielen.

    Im Jahr 2001 wurde in Yugawara die Kyotaro-Nishimura-Gedenkstätte eröffnet.

    Interessante Links:

    Ins Deutsche übersetzte Erzählungen und hier rezensiert:

    Samstag, 14. April 2012

    „Wiedergeburt am Ganges“ von Shusaku Endo

    „Wiedergeburt am Ganges“ ist Shusaku Endos letzter Roman vor seinem Tod im Jahr 1996. Der Leser begegnet verschiedenen Charakteren, die alle in einer Reisegruppe an den Ganges zusammentreffen: Da ist Isobe, der seine Ehefrau durch Krebs verloren hat. Isobe merkt erst nach dem Tod seiner Frau, wie viel sie ihm doch bedeutet hat, und bereut, dass er so gar nicht zärtlich und liebevoll zu ihr war. Im Delirium bat sie, die an Wiedergeburt glaubte, ihren Ehemann, sie in ihrer Reinkarnation zu suchen.

    Mitsuko ist eine harte Frau: Sie glaubt nicht, dass sie zu lieben fähig ist. Für die meisten ihrer Mitmenschen hat sie nur Spott übrig – insbesondere für ihren katholischen Ex-Kommilitonen Otsu, dessen Glauben sie überhaupt nicht nachvollziehen kann.

    Numata fühlt seit seiner Kindheit eine starke Verbundenheit zu Tieren. Als er eine schwere Lungenoperation vor sich hat, ist es ein Beo, der ihm Kraft gibt. Fast scheint es, als hätte der Beo sein Leben für Numatas gegeben.

    Der Ex-Soldat Kiguchi will verreisen, um für seine verstorbenen Kameraden in Indien, dem Ursprungsland des Buddhismus, eine Messe lesen zu lassen. Insbesondere für Tsukada, der ihm in Birma das Leben rettete, aber zurück in Japan nicht mit den Erinnerungen an den Krieg leben konnte und sich zu Tode soff.

    Der Ganges ist der ideale Ort für Mitsuko, Isobe, Numata und Kiguchi, sich ihren Problemen, Weltsichten und Einstellungen zu stellen. In Indien begegnet Mitsuko aber auch Otsu wieder, der nicht katholischer Priester werden konnte und sich nun sterbender Pilger annimmt. In Dialogen und Briefen zwischen Mitsuko und Otsu äußert sich Shusaku Endos Kritik an der westlichen, insbesondere europäischen Interpretation des Christentums: Gut und Böse werden als zwei absolut getrennte Dinge erachtet. Otsu hingegen sieht sie als zwei Seiten einer Medaille. Im Guten liegt immer ein Keim des Bösen, auch das Böse trägt das Gute in sich. Zudem vertritt Otsu eine pantheistische Einstellung, in der seine europäischen Glaubensbrüder Häresie sehen. Ein katholisches Priesteramt bleibt ihm dadurch verwehrt. Daher findet sich Otsu in Indien wieder und nimmt wie Jesus selbst das Leid der Ärmsten der Armen auf sich.

    Doch Shusaku Endo übt auch Kritik an seinem Heimatland: So werden beispielsweise Todkranke noch mit unnützen Therapien behandelt, obwohl diese Leiden und kaum verlängerte Lebenserwartung mit sich bringen. Und die traumatisierten Soldaten des zweiten Weltkriegs werden mit ihren Nöten allein gelassen.

    Bei all den ernsten Themen in „Wiedergeburt am Ganges“ ist der Roman jedoch keineswegs deprimierend. Am Ganges finden die Protagonisten jeder auf seine Weise Trost. Obwohl sie nicht hinduistischen Glaubens sind, übt der heilige Fluss auch auf sie eine (quasi-)religiöse Anziehung aus. „Wiedergeburt am Ganges“ ist auch kein Lobgesang auf Religionen: Die Urlauber erleben religiösen Konflikte hautnah, sind sie doch im Land, als Indira Gandhi von Sikhs ermordet wird.

    Wer „Der wunderbare Träumer“ von Shusaku Endo gelesen hat, darf sich zudem auf ein kleines Wiedersehen freuen: Gaston, der pferdegesichtige, französische Grobmotoriker, spielt erneut einen rettenden Engel.

    Freitag, 13. April 2012

    „Der Yakuza“ von Junichi Saga

    Mit „Der Yakuza“ zeichnet der Autor und Arzt Junichi Saga die Lebensgeschichte seines Patienten Eiji Ijichi auf. Eiji ist bereits schwer krank und erzählt biographische Episoden, die illustrieren, wie er zum Yakuza-Boss der Bande der Dewaya wurde: Aufgrund mangelnder schulischer Leistungen wird er von seinem Vater zum Arbeiten nach Tokio geschickt. Dort verdingt er sich bei seinem Onkel im Kohlehandel und kommt alsbald mit illegalem Glücksspiel in Berührung. Vorerst landet er auf einem Mitternachtsboot, das die Spieler an den polizeilichen Kontrollen vorbeischleust. Doch schon bald startet er selbst auf der untersten Hierarchiestufe als Yakuza bei der Dewaya, um schließlich irgendwann selbst zum Bandenchef aufzusteigen.

    Beginnend in den 20er Jahren des letzen Jahrhunderts erzählt Eiji Ijichi von den alten Wertmaßstäben der Yakuza: Beispielsweise hat ein Yakuza sich ausschließlich im Glücksspielgewerbe zu betätigen. Wer auf andere Weise Geld verdient, verliert den Respekt der Yakuza. Ein Yakuza soll sich an Geishas und Prostituierte halten und „anständige“ Mädchen in Ruhe lassen. Im Yakuza-Quartier haben Frauen ohnehin nichts zu suchen, da sie als weicher gelten und bei der Polizei eher Geheimnisse ausplaudern könnten. Und natürlich wird auch die Sitte des Fingerabschneidens als Zeichen der Reue illustriert. Auch Eiji fehlen zwei Fingergelenke. Weswegen? – Natürlich: Die Frauen haben es ihm angetan…

    Eiji wird aber auch als Soldat eingezogen und ins annektierte Korea geschickt, erlebt das Große Kanto-Erdbeben und muss im zweiten Weltkrieg nicht nur sich, sondern auch seine Untergebenen durchbringen. So steckt „Der Yakuza“ zudem auch noch voll von Anekdoten und Erlebnissen während diesen geschichtsträchtigen Ereignissen.

    Nicht nur wer sich für die Geschichte der Yakuza interessiert, wird die Biographie von Eiji Ijichi verschlingen. Der böse Bube zeigt sich von einer sehr menschlichen Seite während der „guten alten Zeit“ und hat einige überraschende Storys auf Lager.

    Donnerstag, 12. April 2012

    Junichi Saga

    Der Arzt Junichi Saga ist sowohl Autor als auch Dokumentar. Der im Jahr 1941 geborene Saga promovierte an der Keio-Universität im Fach Medizin und eröffnete im Ort Tsuchiura (knapp 150.000 Einwohner) seine Praxis (übrigens derselbe Ort, an dem die Autorin Miri Yu geboren wurde). Die biographischen Erzählungen seiner älteren Patienten fasste er in verschiedenen Büchern zusammen, die den Wandel Japans dokumentieren.

    Dem Werk „Der Yakuza“, in dem der Yakuza Eiji Ijichi von seinem Aufstieg zum Boss der Dewaya-Bande erzählt, wurde besondere Aufmerksamkeit zuteil, nachdem Bob Dylan einzelne Textpassagen für sein Album „Love and Theft“ verwendete. Während einige Parteien Bob Dylan Plagiat vorwarfen, da er Junichi Saga nicht als Quelle aufführte, fühlte sich der Autor selbst geehrt, von Bob Dylan zitiert zu werden.

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    Ins Deutsche übersetzte Werke und hier rezensiert:

    Mittwoch, 11. April 2012

    „Amrita“ von Banana Yoshimoto

    Banana Yoshimotos „Amrita“ riecht förmlich nach Sommer, Sonne, Lebensfreude – und nach den kleinen und größeren Rückschlägen, die das Leben leider mit sich bringt. Der mehr als 500-seitige Roman setzt ein, als mit Sakumi gesundheitlich noch alles in Ordnung ist: Sie lebt in ihrer Patchwork-Familie, die aus Mutter (einmal verwitwet und einmal geschieden), ihrem jüngeren Halbbruder Yoshio, ihrer Cousine und einer Freundin ihrer Mutter zusammen. So manchen Rückschlag musste sie schon einstecken: Der Vater starb früh; die Mutter heiratete nochmals und ließ sich jedoch bald schon wieder scheiden. Ihre schöne Schwester Mayu beging Selbstmord. Und nun hat Sakumi auch noch einen Unfall: Sie stürzt eine Treppe hinunter, muss am Kopf operiert werden und verliert partiell das Gedächtnis.

    Ohne einem bestimmten Höhepunkt zuzustreben, nimmt Sakumis Leben und das ihrer Familie seinen weiteren Verlauf: Ihr jüngerer Bruder leidet unter seinen mysteriösen, übersinnlichen Kräften. Um den Jungen auf bessere Gedanken zu bringen, unternehmen sie einen Ausflug ans mehr. Dort hat Sakumi nicht nur eine Vision, sondern sie trifft auch Ryuichiro wieder, den ehemaligen Partner ihrer verstorbenen Schwester. Sakumi und Ryuichiro, die sich schon vorher näher gekommen waren, fliegen alsbald zusammen nach Saipan, wo sie Ryuichiros Freunde Kazumi und Saeko besuchen. Auch dieses Pärchen verfügt über übersinnliche Kräfte: Saeko bescherte Sakumi die Vision am Meer und singt für Geister. Kazumi wiederum ahnt Dinge, von denen er nur auf übernatürlichem Wege erfahren haben kann. Die vier genießen die gemeinsame Zeit auf der Insel, bis der nachgekommene Yoshio die Runde komplettiert.

    Nach einem Monat auf Saipan fliegen die Halbgeschwister nach Tokio zurück. Schließlich kehrt auch Sakumis Gedächtnis komplett zurück, doch Yoshio leidet weiter unter seinen mysteriösen Visionen. Es reihen sich im Folgenden weitere Episoden aneinander – mehr oder weniger ausgegoren, aber jeweils immer mit einem übersinnlichen Touch.

    Daher wirkt „Amrita“ auch nicht wie ein schlüssiger, abgeschlossener Roman. Zwar bleiben die drei wesentlichen Figuren Sakumi, Yoshio und Ryuichiro konstant, aber Nebenhandlungen rund um Sakumis unglücklich verliebte Freundin Eiko oder das übersinnliche Ex-Paar Kishimen und Mesmer lassen keinen stringenten Spannungsbogen zu. Das stör dann nicht, wenn man die Reflektionen der Figuren mag, die permanent um Leben, Verlust und Glück kreisen, wie z.B.:

    „Angst bekommt man erst dann, wenn man etwas zu verlieren hat. Aber bedeutet das nicht gerade Glück? Zu wissen, was man hat, den Wert zu kennen?“ (S. 259)

    Typische Banana Yoshimoto-Gedankengänge, die manchmal sicherlich etwas stark aufgetragen sind, aber eine warme, herzensgute Atmosphäre verbreiten.

    Dienstag, 10. April 2012

    „Lichtkreise“ von Yuko Tsushima

    Die Ich-Erzählerin wird von ihrem Ehemann ins kalte Wasser geworfen: Er möchte sich selbst verwirklichen, das von ihm verdiente Geld reicht gerade einmal für ihn selbst und daher möchte er sich von seiner Ehefrau trennen. Die gemeinsame Tochter soll sie erst einmal behalten, aber sie solle keine finanzielle Unterstützung von ihm erwarten. Das Beste wäre, wenn sie einfach zusammen mit der Tochter in den Haushalt ihrer Mutter zurückkehren würde.

    Doch die Ich-Erzählerin, die bisher immer von ihrem Ehemann abhängig war, denkt nicht daran, wie die verstoßenen Ehefrauen der Generationen vor ihr wieder bei der Mutter einzuziehen. Das erste Mal in ihrem Leben mietet sie eine Wohnung. Diese ist wunderbar hell und hat Zugang zu einer Dachterrasse. Dafür kann sie aber auch nur über eine Hühnerleiter erreicht werden.

    Sowohl für Mutter und Tochter beginnt eine schwierige Zeit: Obwohl ihr Ehemann sich trennen wollte, willigt er nicht in eine Scheidung ein. Alleinerziehend zu sein, ist für die Protagonistin eine große Last und sehr ermüdend. Sie verliert über die Trennung den Anschluss an ihren bisherigen Freundeskreis; für Männer ist sie aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung nicht attraktiv.

    Ihre Tochter kommt mit der Trennung der Eltern ebenfalls nicht sonderlich gut zurecht. Sie nässt sich nachts ein und neigt zu cholerischen Anfällen. Doch auch die Ich-Erzählerin kann ihre Gefühle nicht richtig kanalisieren und lässt ihre Enttäuschung an dem Kind aus.

    Doch schließlich und endlich gehen beide gestärkt aus ihrem ersten Jahr in der Licht durchfluteten Wohnung hervor.

    Yuko Tsushima präsentiert mit „Lichtkreise“ eine emanzipierte Frau, die einen steinigen Weg auf sich nimmt. Dabei macht sie Fehler und hat menschliche Sehnsüchte, erreicht aber das Ziel der Selbstständigkeit und Unabhängigkeit.

    Montag, 9. April 2012

    Yuko Tsushima

    Yuko Tsushima (eigentlich: Satoko Tsushima), die Tochter des Autors Osamu Dazai, war gerade ein Jahr alt, als ihr Vater im Jahr 1948 Selbstmord beging. Ihr älterer und behinderter Bruder starb im Teenageralter. In "Momentaufnahmen moderner japanischer Literatur" (herausgegeben von Jürgen Berndt und Hiroomi Fukuzawa) wird die Autorin wie folgt zitiert:

    "An meinen Vater habe ich keine Erinnerungen, weil er ein Jahr nach meiner Geburt starb, und so wuchs ich auf, ohne je erfahren zu haben, wie es sich in einer Familie mit Vater lebt. Zudem hatte ich einen drei Jahre älteren Bruder, der am Down-Syndrom litt, und ich war immer mit ihm zusammen, weil er ständig jemanden neben sich brauchte. Als ich zwölf war, starb er. Ich glaube, das Zusammensein mit dem sprach- und verhaltensgestörten Bruder hat mich im Innersten stark geprägt." (S. 130)

    Sie studierte englische Literatur und verfolgte von 1969 bis 1970 einen Aufbaustudiengang an der Meji Universität. Ihre erste Publikation erhielt 1969 einen Universitätspreis. Im selben Jahr wurde sie bereits für den Akutagawa-Literaturpreis nominiert. 1970 heiratete Yuko Tsushima. Sieben Jahre später erfolgte die Scheidung. 1985 verlor sie ihren 8-jährigen Sohn.

    Yuko Tsushima verstarb im Februar 2016 im Alter von nur 68 Jahren in einem Krankenhaus in Tokio an Lungenkrebs.

    Ihre Werke sind stark an ihre eigene Biographie angelehnt: Vaterlose Kindheit, Behinderung, Scheidung, Alleinerziehend-Sein und Verlust eines Kindes sind wiederkehrende Themen. Minderheiten rückt sie in den Fokus: Seien es Behinderte, die im wirtschaftlich wachsenden Japan der Nachkriegszeit gerne verdrängt wurden, oder seien es Frauen, die geschieden und/oder alleinerziehend sind.

    Interessante Links:

    Ins Deutsche übersetzte Romane/Erzählungen und hier rezensiert:
    • Lichtkreise (erscheint 2023 in Neuübersetzung als "Räume des Lichts")

      Sonntag, 8. April 2012

      „Die Wartejahre“ von Fumiko Enchi

      Fumiko Enchis „Die Wartejahre“ porträtiert die traurigen Frauenschicksale der fiktiven Familie Shirakawa während des 19. Jahrhunderts: Yukitomo Shirakawa ist ein entsetzlicher Weiberheld. Damit er sich nicht außerhalb seines Haushaltes herumtreiben muss uns so eventuell seiner politischen Karriere schadet, schickt er ausgerechnet seine Ehefrau Tomo aus, ihm eine geeignete Mätresse zu suchen. Tomo, die sich aufgrund ihres geringen Ausbildungsgrads ausschließlich an ein Wertesystem klammern kann, das absoluten Gehorsam dem Ehemann gegenüber vorsieht, begibt sich in Tokio auf die Suche nach einem jungfräulichen, hübschen Mädchen. In Suga, der Tochter einer verschuldeten Händlerfamilie, wird sie fündig. Gegen einen hohen Geldbetrag und das Versprechen, sich um Suga auch zu kümmern, sobald Yukitomo keinen Gefallen mehr an ihr findet, wird der Teenager den Eltern abgekauft. Suga, die in ihrer Unschuld noch nichts von ihrem weiteren Schicksal ahnt, wird von Herrn Shirakawa mit Schmeicheleien gefügig gemacht. Suga wird auch nicht die einzige Mätresse im Haushalt Shirakawa bleiben. Keine der Frauen wird dort glücklich sein: Tomo, die sich hinter einer Mauer aus Distanziertheit verschanzt, ist nur noch in der Funktion eines Geschäftsführers Teil der Familie. Da sie ihrem Mann den Stammhalter bereits geboren hat, verbringt Yukitomo die Nächte ausschließlich in anderen Betten. Die Mätressen sind wie Sklavinnen gekauft worden. Da sie von Herrn Shirakawa entjungfert worden sind, sind ihre Chancen gleich Null, sich jemals mit einem Mann zu verheiraten, selbst wenn sie Yukitomo aus dem Dienst entlassen würde.

      „Die Wartejahre“ sind eine traurige Schilderung der Stellung der Frau in der damaligen japanischen Gesellschaft: Dem Mann sind sämtliche Freiheiten – selbst sexueller Art – erlaubt, während von der Frau absolute Sittsamkeit erwartet wird. Sie ist eine Ware, deren Wert sich an Schönheit und Jungfräulichkeit festmacht.

      Samstag, 7. April 2012

      „Begegnung mit einem Totenschädel“ von Rohan Koda

      „Begegnung mit einem Totenschädel“ und „Die aus Liebe erschaffene Buddhafigur“ sind die bisher einzigen ins Deutsche übersetzten Novellen von Rohan Koda.

      In „Begegnung mit einem Totenschädel“ geht der Ich-Erzähler Koda auf eine waghalsige Wanderung über einen schneebedeckten Berg. Als die Nacht hereinbricht und er keinen weiteren Schritt mehr gehen kann, trifft er zum Glück auf eine abgelegene Hütte, die seltsamerweise von einer allein stehenden Schönheit bewohnt wird. Auch wenn nicht schicklich, so bietet die Frau pragmatisch an, Koda könne bei ihr übernachten. Einerseits freut ihn das unerwartete Angebot, doch andererseits hat er die Befürchtung, so einem Fuchsgeist auf den Leim zu gehen – insbesondere da die Frau darauf besteht, gemeinsam in einem Bett zu schlafen. In dieser Nacht erzählt sie von ihrem Schicksal: Von Tod, Liebe, Schuld und einem Fluch, der auf ihrer Familie lastet. Am nächsten Morgen sehen die Dinge im Licht des Tages bereits wieder anders aus…

      „Die aus Liebe erschaffene Buddhafigur“ entwickelt sich zunächst wie ein Märchen: Der Holzschnitzer Shuun geht auf Wanderschaft und trifft ein einem kleinen Dorf auf die Blumenverkäuferin Otatsu, die Shuun sofort bezaubert. Der Wirt seiner Unterkunft erzählt ihm mehr von ihr: Ihre Mutter ist gestorben, ihr Vater seit einem Krieg verschollen. Ihr nichtsnutziger Onkel beutet sie aus, während er selbst ihre Einnahmen verprasst. Als Shuun Otatsu in einer Notlage antrifft, kauft er sie von ihrem gierigen Onkel frei. Zunächst denkt er nicht daran, die Schöne zu heiraten. Doch es dauert nicht allzu lange und schon verlieben sich die beiden ineinander. Kurz vor ihrer Hochzeit macht der verschollen geglaubte Vater Otatsus seine Tochter ausfindig. Er ist zwischenzeitlich in den Rang eines Grafen aufgestiegen. Damit erhält seine Tochter Otatsu den Titel einer Comtesse. Doch leider endet hier das Märchen: Sie leben eben nicht glücklich, bis sie gestorben sind – die Verbindung zu Shuun ist vielmehr nun nicht mehr standesgemäß. Otatsu verlobt sich mit einem Adeligen. In seinem Elend voll Liebeskummer beginnt der talentierte Holzschnitzer Shuun die Arbeit an einer Kannon-Figur, die Otatsus Aussehen gleicht.

      Dank des Nachworts von Diana Donath wird der Leser auf zwei interessante Aspekte von „Begegnung mit einem Totenschädel“ hingewiesen: Die Novelle entstand, nachdem der Autor sich selbst fluchtartig über die Berge nach Tokio begeben hat, um seiner Anstellung als Telegraph zu entfliehen. Zudem wird gleich zu Beginn erklärt, warum der Autor den Vornamen Rohan (= der Gefährte des Taus) gewählt hat: Während seines Fußmarsches schlief er natürlich draußen, auf einem mit Tau bedeckten Graskopfkissen.

      Rohan Koda, ein Vertreter des romantischen Mystizismus, kommt dem Leser heutzutage freilich ziemlich verklärt vor: Die Themen Schönheit, Liebe und Schuld werden sehr theatralisch beschrieben, mit Lebensweisheiten wird nicht gegeizt.

      Freitag, 6. April 2012

      Rohan Koda

      Rohan Koda, der als Shigeyuki Koda 1867 in Tokio als vierter Sohn eines Beamten in eine verarmte Samurai-Adelsfamilie hineingeboren wurde, erhielt nach Samurai-Tradition neben dem regulären Vornamen Shigeyuki auch einen Kindheitsvornamen, der Tetsushiro lautete. Schon als Sechsjähriger wurde er in klassischer, chinesischer Literatur unterrichtet. 1875 begann seine Grundschulausbildung, die mit westlichen Unterrichtsmethoden experimentierte. 1879 wechselte er auf die Mittelschule, die er aber aus finanziellen Gründen bereits ein Jahr später wieder verlassen musste. 1881 trat er in die Tokio English School ein, die viele ausländische Lehrer beschäftigte. Doch aus vermutlich erneuten finanziellen Schwierigkeiten, musste er auch diese Schule abbrechen. Nichtsdestotrotz konnte sich Rohan Koda hier einen englischen Grundwortschatz aneignen. Zwischen 1880 und 1883 nutze Rohan Koda intensiv die Tokio Bibliothek und trat in eine Privatschule im chinesischen Stil ein. 1883 begann er eine Ausbildung zum Telegraphen und mit dem Schreiben von chinesischen Gedichten und philosophischen Abhandlungen. 1885 trat er eine Stelle als Telegraph in Hokkaido an. 1887 kehrte er bereits nach Tokio zurück, um seine literarische Karriere zu beginnen: Nach seinem Debüt 1889 erschienen diverse Publikationen. Ab 1908 hielt er Vorlesungen in japanischer Literatur an der kaiserlichen Universität von Kioto; 1911 erhielt er den Doktortitel. 1937 wurde er mit dem japanischen Kulturorden ausgezeichnet; 1943 erhielt er den Noma-Preis. Im Jahr 1947 starb Rohan Koda an einer Lungenentzündung.

      Seine Werke umfassen sowohl Gedichte, als auch Romane, Essays und wissenschaftliche Abhandlungen.

      Rohan Kodas Tochter Aya trat in die Fußstapfen des Vaters und wurde ebenfalls Autorin.

      Interessante Links:

      Ins Deutsche übersetzte Novellen und hier rezensiert:

      Donnerstag, 5. April 2012

      „Baumschatten“ von Saiichi Maruya

      „Baumschatten“ ist wie ein Baum ein komplexes Gebilde: Die Novelle beginnt damit, dass sich der Autor Saiichi Maruya während einer Autofahrt Gedanken über die Faszination von Baumschatten macht. Die Ästhetik der aufs wesentliche reduzierten Formen begeistert ihn. Inspiriert von der Schönheit der Baumschatten würde er gerne eine Erzählung darüber zu Papier bringen. Doch war es nicht Nabokov, der dieses Thema schon einmal verarbeitet hatte? Da sich darüber nichts in Erfahrung bringen lässt, geht der Autor davon aus, dass er seine eigene Idee fälschlicherweise Nabokov zugerechnet hat und beginnt mit dem Schreiben:

      Der Hauptdarsteller der nun von Saiichi Maruya skizzierten Geschichte ist der Autor Furuya. Er ist ein Liebhaber von Baumschatten und hat sich selbst schon einmal dabei erwischt, „Baumschatten, Baumschatten, Baumschatten“ murmelnd in der Betrachtung eben solcher versunken zu sein. Auch seine schriftstellerischen Werke, die kurz skizziert werden, beinhalten das Motiv des Schattens.

      Als Furuya gebeten wird, in seinem Heimatort einen Vortrag zu halten, kommt eine weitere Bittstellerin auf ihn zu: Ein alte Frau, anscheinend ein Fan des Autors, ist zu schwach, um den Vortrag zu besuchen. Daher dringt sie auf Furuya ein, sie doch bitte bei ihr zu Hause zu besuchen. Klärt sich hier der Grund für Furuyas Begeisterung von Baumschatten?

      „Baumschatten“ zeichnet sich durch eine enorm verschachtelte Struktur aus: Es werden Geschichten (nämlich die fiktiven Werke des fiktiven Autors Furuya) in der Geschichte (Furuyas Lebenslauf und seine Begeisterung für Baumschatten) in der Geschichte (Saiichi Maruya, der gerne eine Erzählung über die Faszination und Ästhetik von Baumschatten schreiben möchte und dabei über Ideenfindungen als Autor reflektiert) erzählt. Dadurch wirkt die Novelle eher wie ein kleines und etwas sprödes Kunstwerk als wie eingängige Belletristik.

      Mittwoch, 4. April 2012

      „Das Haus Nire“ von Morio Kita

      Knapp 1.000 Seiten hat Morio Kitas „Das Haus Nire“, ein Familienepos, das die Zeit von 1918 bis 1946 umfasst. „Das Haus Nire“, eine Geschichte, die sich insbesondere um die Nire-Privatklinik für Psychiatrie dreht, ist ein drei Teile untergliedert und beschreibt drei Generationen der Familie Nire: Den Auftakt setzt das Familienoberhaupt und Klinikgründer Kiichiro. Kiichiro – kein besonders guter Arzt, aber versiert im Umgang mit Menschen – führt das Krankenhaus zu großer Blüte und versteht es, unter anderem durch Heiratspolitik, den Fortbestand seines Unternehmens zu sichern. Doch wie könnte es anders sein: Nach dem Tod Kiichiros fehlt es an einem Visionär, der die Klinik erfolgreich weiterführen könnte. Kiichiros (Adoptiv-)Söhne sind anders gestrickt als der Vater; die Enkel wirken wie Taugenichtse. Spätestens der zweite Weltkrieg und die damit verbundene Bombardierung Tokios besiegeln das Schicksal der Nire-Klinik.

      „Das Haus Nire“ steckt voll biographischer Parallelen zu Morio Kitas familiären Hintergrund. Insbesondere Leser von Mokichi Saitos „Wanzentagebuch“ werden öfters grinsen müssen. Mokichi Saito, Vater von Morio Kita, verfasste neben Tanka auch zahllose Essays, deren Handlungen, Szenerien und Lebensgefühle teilweise eins zu eins übernommen wurden. So begegnet man der Japantante/-großmutter wieder, liest erneut von der einschneidenden Begegnung mit Emil Kraepelin und rekapituliert zusammen mit dem Erzähler die Inflation während der Weimarer Republik und den Hitlerputsch. Dank des Nachworts von Eduard Klopfenstein werden aber auch die Unterschiede zur real existierenden Familie Saito/Kita deutlich.

      „Das Haus Nire“ ist stark an die Buddenbrooks angelehnt. Morio Kita, ein ausgesprochener Fan von Thomas Mann, analysierte den Aufbau und die Figuren der Buddenbrooks genauestens, bevor er mit dem Schreiben seines Romans begann.

      1.000 Seiten mögen auf den Leser im ersten Moment etwas einschüchternd und vielleicht etwas abschreckend wirken. Aber durch die karikierende, ironische Darstellung der Figuren vergeht wie Lektüre wie im Flug. Da wird Kiichiros Großspurigkeit aufs Korn genommen, sein hypochondrischer Sohn vorgeführt und sein Enkel als ziemlicher Dummkopf dargestellt, dass man sich das Prusten manchmal nicht verkneifen kann. Trotzdem wird nie boshaft über die Figuren hergezogen, sondern vielmehr treffend kommentiert:

      „Ins Extrem getrieben, nimmt idiotisches Verhalten nämlich die Aura der Feierlichkeit an.“ (S. 101)

      So wird beispielsweise Kiichiros Größenwahn – und warum er damit durchkommt – illustriert. Bei all ihren Fehlern wachsen einem die Figuren des „Das Haus Nire“ durchaus so ans Herz, dass man am liebsten noch von einer vierten Generation lesen würde.

      Dienstag, 3. April 2012

      Morio Kita

      Morio Kita wurde 1927 als Sokichi Saito und Sohn des Tanka-Dichters Mokichi Saito geboren. Nach dem Abschluss der Matsumoto-Oberschule trat er in die Fußstapfen seines Großvaters und Vaters und studierte Medizin. In dieser Zeit weckte sein Kommilitone Nada Inanda seine Begeisterung für die Literatur.

      Seinen ersten Roman schrieb er im Alter von 23 Jahren. 1960 wurde er mit dem Akutagawa-Preis ausgezeichnet. 1963 erschien sein Familienepos „Das Haus Nire“, das als die japanische Variante der Buddenbrooks gilt und von Morio Kitas eigener Familiengeschichte inspiriert ist. Zudem schrieb er zahlreiche humoristische Essays.

      Seine Werke sind von Thomas Mann und seinen Erfahrungen als Schiffsarzt inspiriert. Aus Respekt vor seinem berühmten Vater veröffentlichte er unter dem Pseudonym Morio Kita: Kita (= Norden) wählte er, da in nördlichen Städten zur Schule und zur Universität ging. Morio ist eine Anlehnung an den Titelhelden Tonio Kröger aus Thomas Manns gleichnamiger Erzählung.

      2011 starb Morio Kita im Alter von 84 Jahren.

      Interessante Links:


      Ins Deutsche übersetzte Romane und hier rezensiert:

      Montag, 2. April 2012

      „Tanz mit dem Schafsmann“ von Haruki Murakami

      Mit „Tanz mit dem Schafsmann“ spinnt Haruki Murakami die „Wilde Schafsjagd“ weiter. Vier Jahre sind vergangen, der namenlose Ich-Erzähler ist zurück in Tokio und widmet sich journalistischem „Schneeschaufeln“ – er schreibt bedeutungslose Artikel am Fließband. In beruflicher Hinsicht funktionert er einfach und arbeitet zugeteilte Aufgaben effizient und zur vollen Zufriedenheit seiner Auftraggeber ab. Doch seelisch ist er zerrüttet, denn seit seinem Abenteuer vor vier Jahren, als er auf „Wilde Schafsjagd“ ging, sind ihm alle Freunde abhanden gekommen. Ihm wird nun bewusst, dass er zurück zum Hotel Delfin muss, an den Ort, an dem sich damals die Jagd in die entscheidende Richtung entwickelte. In Sapporo angekommen, staunt der Protagonist nicht schlecht: Statt des heruntergekommenen Hotels, das er erwartet hat, steht nun an derselben Stelle und unter demselben Namen ein Hotel der Luxusklasse. Der Neubau macht seine Hoffnung auf ein Wiedersehen mit dem Schafsmann zunächst zunichte.

      Im Vertrauen berichtet die junge Rezeptionistin Yumiyoshi jedoch von mysteriösen Vorgängen im Hotel Delfin: Als sie eines Abends im Personalstockwerk aus dem Lift aussteigen wollte, befand sie sich statt dessen in einem völlig dunklen, modrigen Flur, der von etwas Unheimlichen bewohnt wurde. Auch der Ich-Erzähler gelangt schließlich in diese verborgene Etage und trifft auf den Bewohner – den Schafsmann. Dieser gibt den Protagonisten einen Rat, den er künftig befolgen soll:

      „‚Tanze’, sagte der Schafsmann. ‚Das ist der einzige Weg. […] Ich kann dir nur sagen: tanze. So gut du nur kannst. Du hast keine andere Wahl.’“ (S. 110)

      Doch ob dem Ich-Erzähler dadurch das ersehnte Glück vergönnt sein wird, kann der Schafsmann nicht garantieren.

      Der Tanz beginnt: Der Protagonist wird zum Beschützer und Begleiter der 13-jährigen Künstlertochter Yuki, die über hellseherische Fähigkeiten verfügt; freundet sich mit seinem ehemaligen Mitschüler Gotanda an, der nun Filmstar, aber genauso einsam wie der Ich-Erzähler ist; wird zu unrecht als Prostituiertenmörder verdächtigt und verliert vor allem erneut Menschen, die ihm nahe stehen. Wird es ihm trotzdem gelingen, in der Liebe seine Erfüllung zu finden?

      Typisch Haruki Murakami geht auch in „Tanz mit dem Schafsmann“ die Handlung nicht allzu schnell voran: Der Protagonist philosophiert beispielsweise ausführlich über die Namen von Pop- und Rockbands und übt Kapitalismuskritik:

      „Wir leben schließlich in einer hochkapitalistischen Gesellschaft. Verschwendung gilt hier als höchste Tugend.“ (S. 26)

      Und:

      „Verschwendung ist der Treibstoff, der Widersprüche erzeugt, und Widersprüche kurbeln die Wirtschaft an, und eine angekurbelte Wirtschaft führt wiederum zu mehr Verschwendung“ (S. 34f)

      „Tanz mit dem Schafsmann“ enthält – wiederum typisch Haruki Murakami – verschiedene Wirklichkeitsebenen: Ist der Schafsmann Realität oder nur ein Hirngespinst? Der Filmstar Gotanda kann nicht mehr zuordnen, was wirklich geschehen ist und was er sich einbildet. Und Yuki hat mysteriöse Visionen.

      Wer Haruki Murakamis Erzählweise mag, für den ist „Tanz mit dem Schafsmann“ ganz großes Kino: Ein kauziger, aber sympathischer Loser-Typ auf der phantastischen Suche nach Erfüllung.

      „Wilde Schafsjagd“ muss man nicht zwangsweise vor „Tanz mit dem Schafsmann“ gelesen haben. Dennoch fehlen ansonsten der Witz an der Namensgebung von Sardine, die Erinnerung an Kikis magische Ohren und die Spannung, was wohl aus dem alten Hotel Delfin geworden sein mag.

      Sonntag, 1. April 2012

      „Wogen“ von Taeko Tomioka

      Die feministische Autorin Taeko Tomioka dreht klassische Verhaltensmuster und Geschlechterrollen mit ihrem Roman „Wogen“ um: Die Protagonistin und Ich-Erzählerin Kyoko geht fremd. Doch sie sucht weder eine Schulter zum Anlehnen, noch Verständnis, noch Sympathie – ihr geht es ausschließlich um Sex. Ihren Liebhaber, den sie nur „den Mann“ nennt, reduziert sie nach und nach auf sein Geschlechtsteil – Kommunikation ist mit ihm ohnehin nicht wirklich möglich.

      „Der Mann“ namens Katsumi macht während der Liaison Erfahrungen, die in einem klassischen Geschlechterverhältnis eher den Frauen vorbehalten sind: Er fühlt sich inferior hinsichtlich seines Bildungsgrades, verdient weniger als seine Liebhaberin und muss sich von ihr mangels Geld einladen lassen, überlässt daher Kyoko Entscheidungen und ist der Anhänglichere der beiden. Im Gegensatz dazu führt Katsumi eine Ehe, die von einer klassischen Rollenverteilung und einem großen Sicherheitsbedürfnis geprägt ist.

      Doch auch Kyokos Umfeld wird porträtiert. Wie in Wogen brechen neue Ereignisse auf die Figuren ein: Die allein stehende Kumiko sieht in Kyoko ihr Vorbild. Doch ist sie fähig, so unabhängig wie die Protagonistin zu leben? Yokos Ehemann zieht sich immer mehr von ihr zurück. Kann sie ihn weiterhin respektieren? Und Amiko lebt zunächst mit ihrem Mann und ihren Kindern in einer Familienidylle. Wird das Glück halten?

      Das Thema der Wogen wird aber auch im Setting aufgenommen: Wie Wellen türmen sich die Hügel des gemeinsamen Wohnorts auf, in den immer mehr Einwohner geschwemmt werden. Genauso unstet wie das wogende Meer und die sich ständig verändernde Stadt verlaufen die Schicksale der Figuren: In der modernen Gesellschaft stehen die alten Rollenvorstellungen zur Disposition. Die alten Modelle funktionieren nicht mehr, doch ein neues verbindliches Muster ist nicht in Sicht. Die Ehe hat nicht mehr den Charakter einer Versorgungsgemeinschaft; Frauen können auch wirtschaftlich selbstständig agieren. Die neuen Optionen sind vielfältig, daher müssen sich die Menschen selbst verorten und ihr Verhalten neu aushandeln. Wie und ob sie auf dem eingeschlagenen Weg ihr Glück finden, ist offen.

      Auch Taeko Tomiokas Erzählstil steht ganz im Zeichen der Wogen: Einzeln schwappen die Episoden über die Seiten, ohne auf einen bestimmten Höhepunkt zuzustreben. Gleichrangige Wellen reihen sich vielmehr aneinander.