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Montag, 30. Mai 2011

„Afterdark“ von Haruki Murakami

„Afterdark“ von Haruki Murakami ist die Geschichte einer Nacht in Tokio. Es ist auch die Geschichte der ungleichen Schwestern Mari und Eri. Eri, ein Model Anfang 20, ist in einen wochenlangen Schlaf gefallen. Sie erwacht immer nur kurz, unbemerkt von ihrer Familie, um zu essen und sich zu waschen, fällt aber wie Dornröschen sofort wieder in einen komatösen Dauerschlaf. Nichts und niemand kann sie wecken.

Die Studentin Mari, die sich zeitlebens wie ein hässliches Entlein neben Eri gefühlt hat, trifft nachts zufällig auf den Bekannten Takahashi, den sie flüchtig aus Schulzeiten kennt. In dieser Nacht begegnen sich die beiden noch zwei weitere Male und kehren voreinander langsam ihr Innerstes nach außen.

Und dann gibt es da auch noch Kaoru, in deren Love Hotel Alphaville eine junge, chinesische Prostituierte von ihrem Freier verprügelt und nackt, ohne Besitztümer zurückgelassen wird. Der Übeltäter ist der Informatiker Shirokawa: Im Beruf extrem rational – aber offensichtlich mit einem zweiten, im Verborgenen liegenden Gesicht.

Haruki Murakami beschreibt die Nacht wie eine zweite Welt, eine zweite Realitätsebene.

„In der Nacht vergeht die Zeit auf ihre Weise. […] Es ist zwecklos, sich dagegen zu wehren.“ (S. 77)

Musik begleitet die Nachtschwärmer: „Five Spot After Dark“ gibt „Afterdark“ den Namen. „Sophisticated Lady“ von Duke Ellington ist die Musik der Nacht. Und „Jealousy“ der Pet Shop Boys trägt den Neid zu Tage, den Mari gegenüber Eri fühlt.

„Afterdark“ nimmt den Leser mit auf eine Beobachtungstour ins nächtliche Tokio. Wie mit einer fliegenden, unsichtbaren Kamera werden die Geschehnisse aufgezeichnet. Hintergründe über die Personen erfährt man fast ausschließlich über deren Gespräche. Durch den Erzählstil im Präsens wirken die Beobachtungen besonders kühl und sachlich. Und dennoch geht von dieser Nacht eine besondere zwischenmenschliche Wärme aus. Neue Freundschaften entwickeln sich und zwei entfremdete Schwestern finden hoffentlich wieder zueinander.

Sonntag, 29. Mai 2011

„Tsugumi“ von Banana Yoshimoto

„Tsugumi“ von Banana Yoshimoto ist gewissermaßen eine Ode an den Sommer am Meer. Die Protagonistion Maria wächst zusammen mit ihren Cousinen Tsugumi und Yoko in einem Küstenstädtchen auf. Sie ist ein uneheliches Kind und gemeinsam mit ihrer Mutter wartet sie im Haushalt von Onkel und Tante darauf, dass ihr Vater sich scheiden lässt und sie beide zu sich nach Tokio holt.

Im Haushalt der Verwandten dreht sich alles um die kränkliche Tsugumi. Körperlich sehr gebrechlich ist sie psychisch umso stärker und temperamentvoller: Tsugumi setzt ihren Willen immer durch, bekommt die bösesten Wutanfälle und überzieht die ganze Familie mit ihren Gemeinheiten. Trotzdem verleben alle eine schöne, manchmal sogar idyllische Zeit am Meer.

Doch nichts währt ewig: Maria kann mit ihrer Mutter schließlich zu ihrem Vater nach Tokio ziehen. Die drei werden endlich eine „richtige“ Familie. Und Tsugumis Vater entschließt sich, seine Pension am Meer zu schließen, um in den Bergen eine neue zu eröffnen. Die kommenden Sommerferien sind die letzte Möglichkeit für die drei Cousinen, einen gemeinsamen Sommer am Meer zu verbringen.

Der Roman „Tsugumi“ beschreibt die Sehnsucht nach dem Meer für alle Sinne: Sand auf der Haut, Salz auf den Lippen, gleißendes Sonnenlicht über dem blauen Wasser, das Geräusch der Wellen und der typische Meeresgeruch, der manchmal sogar bis nach Tokio dringt und dort akutes Heimweh auslöst. Am liebsten würde man gleich seine sieben Sachen packen und ans Meer fahren.

Doch „Tsugumi“ ist auch eine Geschichte über das Erwachsenwerden und Abschiednehmen. Heimat ist kein geographisch fester Ort mehr, sondern ist dort, wo die Familie lebt. Dabei schrammelt der Roman manchmal hart an der Grenze zum Kitsch entlang: Die Herzen laufen manchmal fast über vor zwischenmenschlicher Liebe. Trotzdem bleibt „Tsugumi“ ein herzerwärmendes Buch: Trotz aller Widrigkeiten des Lebens stehen Familie und Freunde stets füreinander ein. So ganz abnehmen kann man Maria allerdings ihre Zuneigung zu dem kleinen Teufel Tsugumi nicht.

Trotzdem: „Tsugumi“ ist eine wunderbar leichte Sommerlektüre, die Sehnsüchte nach Sommer, Meer und Familienzusammenhalt weckt.

Im Nachwort erzählt Banana Yoshimoto den persönlichen Hintergrund ihres Romans: Mehr als zehn Jahre lang fuhr die Familie Yoshimoto im Sommer in dieselbe Pension am Meer. Die schönsten Erinnerungen daran hat die Autorin in „Tsugumi“ festgehalten. Tja, und wer verbirgt sich hinter der Figur der gemeinen Tsugumi? Banana Yoshimoto höchstpersönlich!

Freitag, 27. Mai 2011

„Schwarze Flut“ von Yasushi Inoue

Bei „Schwarze Flut“ von Yasushi Inoue empfiehlt es sich ausnahmsweise, das Nachwort zuerst zu lesen. Denn ohne die historischen Hintergründe der Shimoyama-, Mitaka- und Teigin-Fälle tut man sich unnötig schwer beim Einstieg in dieses Buch. Auch wird man direkt mit der Nase auf die Erzählstruktur des Romans gestoßen: Denn die Shimoyama-Affäre bildet nur den Rahmen, oder wie Otto Putz im Nachwort meint, das Echo des Schicksals des Protagonisten Hayami.

Hayami ist federführender Redakteur bei der großen Tageszeitung K und verantwortlich für die Berichterstattung über den Tod des Eisenbahnchefs Shimoyama: „Ist es Mord oder Selbstmord?“ ist die große Frage. Die Tageszeitung K übernimmt die Theorie des Selbstmords, während alle anderen Zeitungen die Mordtheorie verfolgen. Damit isoliert sich Hayamis Zeitung und macht sich unglaubwürdig bis hin zur Geschäftsschädigung.

Durch die Konfrontation mit diesem Fall reißen in Hayami alte Wunden auf. Denn vor Jahren beging Hayamis junge Ehefrau Harumi mit ihrem Liebhaber Doppelselbstmord. Seitdem ist Hayami ein „Verlorener“, vom Schicksal aus der Bahn geworfen, von einer schwarzen Flut übermannt. Während er den Shimoyama-Selbstmord anhand von Fakten untersuchen kann, bleiben ihm für den Selbstmord seiner Ehefrau nur Vermutungen.

Für Leser, die sich nicht für japanische Geschichte interessieren, ist der Teil rund um den Tod von Shimoyama eher etwas fade. Die Ermittlungen ziehen sich hin und die Todesursache bleibt bis heute ungeklärt. Viel eindringlicher ist Hayamis Martyrium nach dem Selbstmord seiner Ehefrau Harumi. Man möchte ihm wünschen, sich in Keiko, die Tochter seines ehemaligen Lehrers zu verlieben. Doch die Macht der toten Harumi scheint ungebrochen.

Mittwoch, 25. Mai 2011

Yasushi Inoue

Yasushi Inoue gilt als einer der ganz großen japanischen Autoren. 1907 wurde er auf Hokkaido in Asahikawa geboren. Von 1930 bis 1932 studierte er zunächst Jura und im Anschluss bis ins Jahr 1936 Kunstgeschichte. Damit brach er mit einer Familientradition: Über sieben Generationen hinweg waren die Inoues als Ärzte tätig.

Nach seinem Universitätsabschluss arbeitete er zunächst als Journalist für eine große japanische Tageszeitung, bis er 1950 mit dem Akutagawa-Preis für "Der Stierkampf" als freier Schriftsteller seinen Durchbruch hatte. Ein zentrales Thema in Inoues Werken ist die Vereinsamung des Menschen in der modernen Gesellschaft. Bekannt ist er insbesondere für seine literarischen Darstellungen zwischenmenschlicher Beziehungen.

Zu Beginn des Jahres 1991 starb Yasushi Inoue in Tokio. 

Interessante Links:
  • Ausführliche Biographie von Yasushi Inoue (auf Englisch)

Hier rezensierte Romane/Erzählungen:

      Weitere ins Deutsche übersetzte Werke:
      • Die Höhlen von Dun-huang
      • Eroberungszüge

      Dienstag, 24. Mai 2011

      „Die seltsamen Methoden des Dr. Irabu“, „Die japanische Couch – Neue Geschichten aus der Praxis des Dr. Irabu“ und „Die merkwürdigen Fälle des Dr. Irabu“ von Hideo Okuda


      Die Dr. Irabu-Reihe von Hideo Okuda umfasst derzeit schon drei ins Deutsche übersetzte Bände; in Japan werden die Geschichten rund um den freakigen Psychiater Dr. Irabu gerade als Serie verfilmt. Denn Dr. Irabu ist gute Laune und Amusement pur!

      Jeder Band enthält vier bis fünf Geschichten, die aus der Sicht des jeweiligen Patienten erzählt werden. Die Problemlagen der bei Dr. Irabu Hilfesuchenden sind vielfältig: Da gibt es beispielsweise einen Yakuza, der Angst vor spitzen Gegenständen hat. Einen Schüler, der handysüchtig ist. Einen Journalisten, der Angst hat, aus diversen Gründen könne in seinem Wohnhaus ein Feuer ausbrechen. Einen Mann mit Dauererektion. Eine alternde Schauspielerin, deren größter Feind Fett ist, das sich an ihren Hüften absetzen könnte.

      Sie alle landen – zum Teil unfreiwillig – in der Irabu-Poliklinik, in deren schummrigen Untergeschoss Dr. Irabu mit seiner Krankenschwester Mayumi die neurologische Abteilung bildet. Dr. Irabu ist ein dicker, ungepflegter, überdrehter Mann mit schriller Stimme und dem Wesen eines Kindes. Mayumi ist sein absoluter Gegenpol: Gelangweilt, aber sehr aufreizend verrichtet sie ihre Arbeit, die meist darin besteht, den Patienten unnötige Spritzen zu verpassen. Denn Dr. Irabu ist ein Spritzenfetischist und bekommt glänzende Augen bei jeder Injektion. Dr. Irabu wirkt wie die personifizierte Inkompetenz. Und dennoch führt seine Art, die Menschen mit ihren eigenen Ängsten zu konfrontieren, zum gewünschten Therapieerfolg. So verzweifelt der handysüchtige Yuta, als der naiv wirkende Dr. Irabu den Spieß umdreht und ihn im Minutentakt mit sinnlosen SMS-Nachrichten bombardiert:

      „Ich gehe jetzt baden!
      Ich bin jetzt fertig mit Baden!
      Zum Abend gibt es Frikadellen!
      Die Mohrrüben muss ich auch essen, schimpft Mutti.“

      Die Dr. Irabu-Reihe ist ein wunderbar leichtes Lesevergnügen. Ab dem dritten Band „Die merkwürdigen Fälle des Dr. Irabu“ sind die einzelnen Geschichten zum Teil schon leicht verwebt. Und der Leser darf ein bisschen mehr über die aufreizende Mayumi erfahren.

      Mittwoch, 18. Mai 2011

      „Das Gewicht des Glücks“ von Kyoichi Katayama

      „Das Gewicht des Glücks“ von Kyoichi Katayama ist der meistverkaufte Roman in Japan. Die Liebesgeschichte um Saku-chan und Aki ist auch wahrlich herzzerreißend. Die beiden Teenager nähern sich ganz sachte an: Sie sollen in einem Schülertheater Romeo und Julia darstellen, als Saku-chan bemerkt, wie eifersüchtig andere Jungs darauf sind, dass er mit Aki nun so engen Kontakt pflegen darf. Ganz langsam wird Saku-chan bewusst: Er ist verliebt in Aki. Sehr vorsichtig tastet er sich weiter, bis er Aki zum ersten Mal küssen kann. Beide verbringen bald eine gemeinsame Sommernacht auf einer verlassenen Insel, die sich als wunderbare Erinnerung einbrennt. Doch bald darauf wendet sich das Blatt – Aki wird krank und schließlich steht die Diagnose fest: Es ist Leukämie und Aki hat nicht mehr lange zu leben.

      Bereits auf den ersten Seiten des Buches weiß der Leser, dass Aki sterben wird. Und dennoch hofft man insgeheim noch auf ein Happy End. Leider stirbt Aki und Saku-chan stürzt in eine große, hoffnungslose Leere.

      Obwohl die Handlung dramatisch ist, wirkt die Liebesgeschichte nie schmalzig-schwülstig. Vielmehr lassen sich Saku-chans Emotionen intensiv nacherleben – bei diesem Roman bleibt einfach kein Auge trocken. Und dennoch malt der Roman auch eindrücklich schöne Bilder: Aki, wie sie an einem Sommertag im Meer badet, der erste Kuss am Schrein… Und da ist auch noch Saku-chans Großvater, dem es nicht vergönnt war, seine große Liebe zu heiraten und Saku-chan spitzbübisch dazu anstiftet, mit ihm Asche aus dem Grab der Angebeteten zu stehlen.

      Leider ist das Buch derzeit in Deutschland vergriffen und nur noch über die bekannten Gebrauchtbücherbörsen erhältlich – zeitweise zu recht unverschämt hohen Preisen.

      Sonntag, 15. Mai 2011

      „Teufelskind“ von Natsuo Kirino

      „Teufelskind“ von Natsuo Kirino ist im Japanischen als „Es tut mir leid, Mutter“ erschienen. Dieser Titel erscheint mir ein bisschen besser geeignet als „Teufelskind“. Denn ein Kind ist die Protagonistin Aiko schon lange nicht mehr. Vielleicht war sie nie richtig Kind: Die Frau in den 40ern wuchs in einem Bordell als verstoßene Tochter einer Prostituierten auf. Liebe hatte sie nie erfahren, sondern musste als Fußabtreter für die Launen der Huren herhalten. Die Schule konnte sie erst besuchen, als die Puffmutter starb und sich das Bordell auflöste. Doch Aiko blieb das Gespött im Kinderheim: Sie hat keine Mutter, weiß nichts über ihre Herkunft und spricht mit der einzigen Hinterlassenschaft ihrer Mutter, ausgetretenen Pantoffeln, die sie wie einen Schatz hütet. Doch Aiko beginnt sich zu rächen; Brandanschläge sind ihr Spezialgebiet.

      Wie auch in „Die Umarmung des Todes“ wird die Geschichte aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt. Da ist die ehemalige Erzieherin Misae, die zwischenzeitlich das nun erwachsene Heimkind Minoru geheiratet hat und nach wie vor dessen „Mama“ ist. Ryuzo, zeitweise Aikos Pflegevater, entdeckt seine Leidenschaft für das Tragen von Frauenkleidern – am liebsten die seiner bettlägerigen Ehefrau. Shizuko, bei der Aiko als Haushälterin anheuert, managt die Hotels ihres Ehemanns, eines bekannten Schürzenjägers, der keine Gelegenheit auslässt, Shizuko zu hintergehen. Masayo, die nur ganz kurz Aikos Weg kreuzt, ist die frustrierte Ehefrau eines Wäschereibesitzers: Ihre Ehe gleicht einem Haussklavinnendasein. Und dann sind da die diversen Schicksale der gealterten Prostituierten aus dem Bordell, in dem Aiko aufwuchs.

      Ein Nachwort von Elke Kreil beschreibt die Motivation Natsuo Kirinos, auf die Perspektivlosigkeit von japanischen Frauen aufmerksam zu machen. Vor diesem Hintergrund machen die kurz angerissenen Schicksale der einzelnen Frauen insbesondere Sinn.

      „Teufelskind“ ist ein spannender Roman mit einer sehr unsympathischen Anti-Heldin. Natsuo Kirino gelingt es, den Leser ab der ersten Seite in den Bann zu ziehen, wenn auch mit teilweise sehr absonderlichen Gegebenheiten und Geschichten.

      Samstag, 14. Mai 2011

      „Die Welt hasst mich“ von „Beat“ Takeshi Kitano

      „Die Welt hasst mich“ von „Beat“ Takeshi Kitano ist ein Büchlein mit 119 Seiten und enthält primär Kitanos Reflektionen über die japanische Gesellschaft. Vorab wird von Kitano festgestellt: „Ich bin ein Enfant Terrible.“ Wahrscheinlich wird das jeder Japaner unterschreiben, denn Kitano nimmt wahrlich kein Blatt vor den Mund. Insgesamt enthält das Buch sieben Kapitel:

       „Bist Du echt so grandios, Herr Regisseur Kitano Takeshi?“ ist für seine Filmfans bestimmt besonders interessant. Hier findet sich auch Kitanos Erklärung, weshalb sein Film „Hana-bi“ seiner Meinung den Biennale-Löwen von Venedig gewinnen konnte:

      „Alle hielten die anderen Beiträge für total beschissen. Ein halbes Dutzend war superschlecht, und die andere Hälfte war so lala, dass nur dieser eine übrig blieb.“ (S. 5)

      In „Ist es moralisch verwerflich, einen Erhängten noch an den Füßen zu ziehen?“ reflektiert Kitano über Sterbehilfe, Selbstmord und Tod. So ganz mag man ihm als Leser nicht folgen, wenn er beispielsweise sagt, dass er eine Mutter versteht, die ihr gewalttätiges Kind umbringt. Dennoch hat der Autor manche interessante, weil abstruse Fragen zu stellen: Wenn beim Erhängen eines zum Tode Verurteilten das Seil reißt und der Todeskandidat an seinen davongetragenen Verletzungen stirbt – wird der Henker dann wegen fahrlässiger Tötung angeklagt? Wird eine Hochschwangere ermordet, ist das dann Doppelmord?

      Das dritte Kapitel lautet „Curriculum vitae oder: Aus welchem Stall man kommt“. Hier kritisiert Kitano die Behauptung, alle Menschen hätten dieselben Chancen, wenn doch bereits ab dem Kindergarten Auswahlmechanismen den Lebenslauf bestimmen:

      „Nach außen hin behaupten die Japaner, alle wären gleich, aber hinter der Fassade glaubt keiner daran“ (S. 48)

      In „Eine Theorie über den Ruin des Landes durch freiwillige Helfer“ lässt sich Kitano über die japanische Haltung zu Freiwilligendienste aus. Da das Bewusstsein für Individualität gering ist, sind Japaner besonders bereit sich als freiwillige Helfer zu engagieren. Dies führt zu abstrusen Regelungen, dass an Universitäten Punkte für Freiwilligenhilfe vergeben werden – aber wenn es um Punkte geht, kann dann die Hilfe von freiwillig sein? Freiwilligenhilfe wird zudem medienwirksam inszeniert und nicht aus wahrer Nächstenliebe. Kitano schätzt die Lage Japans prekär ein:

      „Wenn freiwillige Hilfe weiterhin in Mode bleibt, so dass Gemeinden und Kommunen keinen Finger rühren […], dann wird das Land unweigerlich zugrunde gehen.“ (S. 67)

      „Nippon – ein Paradies für böse Buben“ thematisiert den Umgang mit jugendlichen Straftätern. Anhand eines Amoklaufs des 14-jährigen Seiko Sakakibara in Kobe prangert Kitano den zu laschen Umgang mit straffälligen Jugendlichen und schlampige Arbeit bei der Polizei an. Zudem behandeln die Medien Verbrechen als Spektakel: Wie einen fiktiven Krimi verfolgen die Zuschauer Verbrechen zum Vergnügen – alles verkommt zur Show.

      „Eine Demokratie namens Begierde“ prangert Bestechlichkeit und Sittenverfall an:

      „Wir wissen nicht mehr, wo der Fokus der Gesellschaft liegt. Im schlimmsten Fall lebt der soziale Aussteiger sogar noch bequemer als andere. In der Tat kommt solch ein Taugenichts viel eher in den Genuss der Dinge.“ (S. 97)

      Sexuelle und materielle Begierden sind so weit entfesselt, dass eine endgültige Überhitzung die Explosion der japanischen Gesellschaft hervorrufen kann.

      „Japan, ein Paradies für Amokläufer“ behandelt Kitano das Thema von geistig gestörten Straftätern: Laut seiner Aussage sind nur zwei Prozent der Weltbevölkerung „normal“; daher sollte es keine Sonderbehandlung von Straftätern geben, die als psychisch gestört eingestuft werden.

      Insgesamt stellt Kitano viele sehr provokante Thesen auf, mit denen ich mich nicht identifizieren kann. Manchmal klingt er für mich wie ein Hardliner. Und dann wieder huldigt er seiner eigenen Verrücktheit. An manchen Stellen widerspricht er sich. Und manchmal weiß man nicht, ob er das Gesagte überhaupt ernst nimmt. Damit mag ich dieses Büchlein eigentlich niemandem ans Herz legen. Einige Aussagen geben zwar kleine Denkanstöße, aber so manches Mal konnte ich nur den Kopf schütteln. Aber ich war ja vorgewarnt: Ein wahres Enfant Terrible!

      Sonntag, 8. Mai 2011

      „Beat“ Takeshi Kitano

      "Beat" Takeshi Kitano
      (Photocredit: Geir Friestad/Flickr,
      Creative Commons-Lizenz)
      „Beat“ Takeshi Kitano ist ein Multitalent: Er ist Autor, Regisseur, Comedian, Schauspieler und Maler – um nur einige seiner Betätigungen zu nennen. Geboren wurde er 1947 als Sohn eines Anstreichers im Arbeiterviertel Tokios. Sein Ingenieursstudium brach er ab, nachdem er als Anführer eines Studentenprotests aufgefallen war. Während er sich als Fahrstuhlführer in einem Stripclub über Wasser hielt, entdeckte er seine Leidenschaft für Comedy. Bald trat er mit Kyoshi Kaneko als das Comedy-Duo „Two Beats“ auf.

      Anfang der 80er Jahre trennte sich das Duo und „Beat“ Takeshi Kitano begann eine TV- und Schauspielerkarriere. Seine erste Betätigung als Regisseur verdankte er dem Umstand, dass der ursprünglich eingeplante Regisseur eines Films, in dem Kitano die Hauptrolle spielte, erkrankte. „Beat“ Takeshi Kitano übernahm die Regie und konnte mit seiner Arbeit überzeugen.

      1994 verunglückte „Beat“ Takeshi Kitano, als er mit seinem Motorrad gegen einen Autobahnpfeiler raste. Die Rekonvaleszenz war langwierig: Mehrere Monate musste er im Rollstuhl verbringen, die rechte Gesichtshälfte war lange Zeit gelähmt. Während seiner Genesung begann „Beat“ Takeshi Kitano mit dem Malen.

       Ein vorläufiger Höhepunkt seiner filmischen Karriere war der Gewinn des goldenen Löwen von Cannes mit seinem Film Hana-Bi.

      In Deutschland ist „Beat“ Takeshi Kitano vor allem auch durch die TV-Serie „Takeshi’s Castle“ bekannt, weniger als Autor. In seinen Büchern und Interviews übt er starke Kritik an der japanischen Gesellschaft, in der für ein Individuum kein Platz ist.

      Interessante Links:


        Ins Deutsche übersetzte Bücher und hier rezensiert:

        Sonntag, 1. Mai 2011

        „Piercing“ von Ryu Murakami

        „Piercing“ von Ryu Murakami beginnt mit einer Szene, die unter die Haut geht: Masayuki, vor kurzem Vater geworden, steht mit einem Eispickel an der Wiege des Neugeborenen, berührt den Gesichtsflaum des Babys mit der Spitze des Pickels. Masayuki, der vor Jahren seine Ex-Freundin mit einem Eispickel verletzt hat, hat dabei nicht die Absicht, sein Kind zu töten. Er versucht sich selbst davon zu überzeugen, dass er nicht fähig ist, nochmals einen geliebten Menschen niederzustechen.

        Masayuki, der als Kind von seiner Mutter misshandelt wurde, ist sich im Klaren: Er muss etwas tun, um das drohende Unheil abzuwenden. Um sein Kind vor sich selbst zu retten, heckt er einen Plan aus – jemand anderes soll durch den Eispickel sterben. Dazu mietet er sich unter falschem Namen in einem Hotel ein und bestellt eine Prostituierte aus einem SM-Club zu sich. Sein Plan scheint wasserdicht: Nachdem er sein Opfer gefesselt hat, möchte er es mit dem Eispickel erstechen.

        Als Chiaki zu ihm geschickt wird, gerät der Plan aus dem Ruder: Chiaki, ebenfalls ein Missbrauchsopfer in Kindheitszeiten, wird selbst von den inneren Dämonen getrieben, die sie vielleicht sogar gefährlicher machen als Masayuki.

        Ryu Murakamis Buch ist sehr spannend; die Wendungen, die die Handlung vornimmt, sind überraschend. Denn insbesondere das Verhalten von Chiaki ist nicht vorhersehbar. Dennoch fehlt mir in dem Roman etwas der Zugang zu den Figuren. Die Idee, jemand anderes anstatt des eigenen Kindes zu töten, kommt Masayuki zu plötzlich. Z.B. fehlt auch eine Überlegung des Protagonisten: Ist ein solcher Mord eine Katharsis oder nur der Beginn eines Gewaltrausches, nachdem er Blut geleckt hat? Die Figur der Chiaki und deren Dämonen hätten zudem etwas mehr Beschreibung verdient. Wäre den inneren Qualen der Hauptfiguren mehr Beachtung geschenkt worden, wäre der Roman bestimmt noch eindringlicher.